Pindar

[902] Pindar.

Ein griechischer lyrischer Dichter, den die Alten durchgehends wegen seiner Fürtreflichkeit bewundert haben. Plato nennet ihn bald den göttlichen, bald den weisesten. Die Griechen sagten, Pan singe Pindars Lieder in den Wäldern, und das Orakel zu Delfi befahl den dortigen Einwohnern, daß sie von den Opfergaben, die dem Apollo gebracht wurden,[902] diesem Dichter einen Theil abgeben sollten. Ganze Staaten waren stolz darauf, wenn er in seinen Oden sie gelobt hatte. Für einige Verse, die er zum Lob der Athenienser gemacht hatte, wurd er nicht nur von dieser Stadt reichlich beschenkt; sondern sie ließ ihm auch noch eine eherne Statue sezen: und als Alexander in dem heftigsten Zorn Theben, Pindars Geburthsstadt, zerstöhren ließ, befahl er, daß das Haus darin der Dichter ehemals gewohnt hatte, verschont werde, und nahm dessen Familie in seinen Schuz. So dachten die Griechen von dem Dichter.

Horaz bezeuget bey jeder Gelegenheit, wie sehr er ihn verehre. Er vergleicht seinen Gesang einem gewaltigen von starkem Regen aufgeschwollenen Bergstrohm, der mit unwiederstehlicher Gewalt alles mit sich fortreißt. Ein andrer sehr feiner römischer Kunstrichter urtheilet also von ihm. »Von den neuen lyrischen Dichtern ist Pindar weit der erste. Durch seinen hohen Geist, durch seine erhabene Pracht, durch seine Figur- und Spruchreiche Schreibart übertrift er alle andere. Er ist von einer so glüklichen, so reichen und wie ein voller Strohm fließenden Beredsamkeit, daß Horaz ihn deshalb für unnachahmlich hält.«1 Horaz schäzet die Ehre von Pindar besungen zu werden, höher, als wenn man durch hundert Statuen belohnt würde.


–– Et centum potiore signis

Munere donat.2


Dieser große Dichter lebte zu Theben in Böotien ohngefehr zwischen der 65 und 85 Olympias. Von seiner Erziehung, den Veranlassungen und Ursachen der Entwiklung und Ausbildung seines poetischen Genies ist uns wenig bekannt: aber dieses wenige verdienet mit Aufmerksamkeit erwogen zu werden. Sein Vater soll ein Flöthenspiehler gewesen seyn, und den Sohn in seiner Kunst unterrichtet haben; von einem gewissen Lasus aber soll er die Kunst die Leyer zu spiehlen gelernt haben. Das fleißige Singen fremder Lieder mag sein eigenes dichterisches Feuer angefacht haben. Wenn es wahr ist, was Plutarchus von ihm und der Corinna erzählt; so scheinet es, er habe anfänglich in seinen Gedichten mehr auf den Ausdruk, als auf die Erfindung gedacht. Denn diese schöne Dichterin soll ihm vorgeworfen haben, daß er in seinen Gedichten mehr beredten Ausdruk, als Dichtungskraft zeige: und darauf soll er ein Lied gemacht haben, darin er seiner dichterischen Phantasie nur zu sehr den Lauf gelassen.3 Man meldet von ihm, er habe an der pythagorischen Philosophie Geschmak gefunden. Darin konnte seine von Natur schon enthusiastische Gemüthsart starke Nahrung finden. Noch zu des Erdbeschreibers Pausanias Zeiten, zeigte man in dem Tempel zu Delfi einen Seßel auf welchem Pindar, so oft er dahin gekommen, seine Päane soll abgesungen haben.

Außer den Oden, davon wir noch eine beträchtliche Sammlung haben, hat Pindar noch sehr viel andre Gedichte, Päanen, Bacchische Oden, Hymnen, Dithyramben, Elegien, Trauerspiehle u.a. geschrieben. Die bis auf unsre Zeiten gekommenen Oden haben überhaupt nur eine Gattung des Stoffs. Der Dichter besingt darin das Lob derer, die zu seiner Zeit in den verschiedenen öffentlichen Wettspiehlen gesieget haben. Solche Siege waren damals höchst wichtig »die höchste Ehre im Volke war ein Olympischer Sieger zu seyn, und es wurde dieselbe für eine Seeligkeit gehalten: denn die ganze Stadt des Siegers hielte sich (dadurch) Heil wiederfahren; daher diese Personen aus den gemeinen Einkünften unterhalten wurden, und die Ehrenbezeugungen erstrekten sich auf ihre Kinder; ja jene erhielten von ihrer Stadt ein prächtiges Begräbnis. Es nahmen folglich alle Mitbürger Theil an ihrer Statue, zu welcher sie die Kosten aufbrachten, und der Künstler derselben, hatte es mit dem ganzen Volke zu thun.«4 Diese Sieger also beehrte Pindar mit seinen Gesängen.

Für uns sind jene Spiehle ganz fremde Gegenstände, und die Sieger völlig gleichgültige Personen. Aber die Art, wie der Dichter seinen Gegenstand jedesmal besingt; die Größe und Stärke seiner Beredsamkeit; die Wichtigkeit und das Tiefgedachte der eingestreuten Anmerkungen und Denksprüche, und der hohe Ton der Begeisterung, der selbst den gemeinesten Sachen ein großes Gewicht giebt, und gemeine Gegenstände in einem merkwürdigen Lichte darstellt; dieses macht auch uns den Dichter höchst schäzbar.

Es gehörte unendlich mehr Kenntnis der griechischen Sprache, und der griechischen Litteratur überhaupt, als ich besize, dazu, um zu zeigen, was für ein hohes und wunderbares Genie überall aus dem Ton, aus der Sezung der Wörter, aus der Wendung der Gedanken, aus dem oft schnell abgebrochenen Ausdruk und aus dem, diesem Dichter ganz [903] eigenen Vortrag, hervorleuchtet. Was man überall zuerst an ihm wahrnihmt, ist gerade das, was auch an unserm deutschen Pindar, ich meine Klopstoken, zuerst auffält, nämlich der hohe feyerliche Ton, wodurch selbst solche Sachen, die wir allenfalls auch könnten gedacht haben, eine ungewöhnliche Feyerlichkeit und Größe bekommen, und unsrer Aufmerksamkeit eine starke Spannung geben. Wir empfinden gleich anfangs, daß wir einen begeisterten Sänger hören, der uns zwingt Phantasie und Empfindung weit höher, als gewöhnlich, zu stimmen. Indem er uns mit Gegenständen unterhält, die für uns fremd, und nicht sehr interessant sind, treffen wir auf Stellen, wo wir den Sänger als einen Mann kennen lernen, der über Charaktere, über Sitten und sittliche Gegenstände tief nachgedacht hat, und sehr merkwürdige Originalgedanken anbringt, wo wir blos die Einbildungskraft beschäftigten; als einen Mann von dem feinesten sittlichen Gefühl und von der reichesten und zugleich angenehmesten Phantasie. Jeder Gegenstand, auf den er seine Aufmerksamkeit gerichtet hat, erscheinet seiner weit ausgedähnten, aber auch tiefdringenden Vorstellungskraft weit größer, weit reicher, weit wichtiger, als kein andrer Mensch ihn würde gesehen haben; und denn unterhält er uns auf eine ganz ungewöhnliche und interessante Weise darüber. Gar oft aber wendet er den Flug seiner Betrachtungen so schnell, und springt so weit von der Bahn ab, daß wir ihm kaum folgen können.

Aber ich unterstehe mich nicht, mich in eine Entwiklung des Charakters dieses sonderbaren Dichters einzulassen, die weit stärkere Kenner desselben nicht ohne Furchtsamkeit unternehmen würden. Wer ihn noch nicht kennt, der wird in den Versuchen über die Literatur und Moral des Hrn. Clodius5 noch verschiedene andere richtige Bemerkungen hierüber, mit Vergnügen lesen. Vielleicht wird der berühmte Hr. Hofrath Heyne in Göttingen, der uns kürzlich eine schöne Ausgabe dieses Dichters, mit wichtigen Bemerkungen gegeben hat, in dem zweyten Theile uns den Charakter desselben ausführlich schildern.

1Quint. Inst. L. X.
2Od. L. IV. 2.
3Plut. in dem Traktat: ob die Athentenser im Krieg oder im Frieden größer gewesen.
4Winkelm. Anmerk. über die Geschichte der Kunst.
5Erstes Stük S. 19 u.s.f.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 902-904.
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902 | 903 | 904
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