Rührend

[990] Rührend. (Schöne Künste)

Eigentlich wird alles, was leidenschaftliche Empfindung erwekt, rührend genennt, und in diesem allgemeinen Sinne wird das Wort in dem folgenden Artikel genommen; hier aber halten wir uns bey der besondern Bedeutung desselben auf, nach welcher es blos von dem genommen wird, was sanft eindringende und stillere Leidenschaften, Zärtlichkeit, stille Traurigkeit, sanfte Freude u. d. gl. erweket. Denn in diesem Sinne wird es genommen, wenn man von Gedichten, von Auftritten, von Geschichten sagt, sie seyen rührend.

Diese Art des Leidenschaftlichen ist in den schönen Künsten von dem allgemeinesten und ausgedähntesten Gebrauche. Der Künstler, der blos zu gefallen sucht, erreicht seinen Endzwek am sichersten, durch einen rührenden Stoff; weil kein andrer so durchgehenden und allgemeinen Beyfall gewinnt. Jeder Stand, jedes Alter, und bald jeder Charakter der Menschen findet in zärtlichen und sanften Leidenschaften eine Wollust; und für einen Menschen, der vorzüglich das Große, das sehr Pathetische, liebt, findet man zwanzig, denen das Rührende mehr gefällt. Es ist nur wenigen Menschen gegeben an Wahrheit, Vollkommenheit, und Größe, Nahrung für den Geist, oder für das Herz zu finden; fast alle finden sie in dem Rührenden. Man wird in dem dramatischen Schauspiehl allezeit wahrnehmen, daß rührende Scenen alle Logen und alle Bänke in Bewegung sezen, da bey viel andern Scenen von großer Schönheit, ein Theil der Zuhörer ziemlich kalt und ruhig bleibt. Neben dem Vortheil des allgemeinesten Beyfalles, hat es noch den, daß es am leichtesten zu erreichen ist; in dem nicht selten auch mittelmäßige Künstler darin glüklich sind.

Wie aber die angenehmesten Speisen weder die gesundesten noch die nahrhaftesten sind, so ist auch das Rührende deswegen, weil es am meisten gefällt, nicht eben die schäzbareste Art des Stoffs zu Werken der schönen Kunst. Man kann überhaupt darauf anwenden, was wir im Artikel Mitleiden über den traurigen Stoff gesagt haben. Dem Menschen dessen Herz den sanftern Leidenschaften verschlossen ist, fehlet in der That sowol zum Genuß des Lebens, als zur nüzlichen Würksamkeit, etwas Wesentliches; er ist der süßesten Wollust beraubt; zu mancher wichtigen Pflicht, mangelt es ihm an Beweggrund, und bey mancher Gelegenheit versäumet er aus Mangel des Antriebes, Gutes zu thun. Aber der, den nichts angreift, als was sanft rühret, kann leicht in einen weichlichen Wollüstling, in einen schwachen zu jeder wichtigen That unfähigen Menschen ausarten. Diese Betrachtungen sind für den Künstler, der um die beste Anwendung seiner Talente besorgt ist, von Wichtigkeit. Vorzüglich sind sie den dramatischen Dichtern und Romanenschreibern zu empfehlen, weil ihre Werke sich am weitesten in das Publicum verbreiten. Es ist leichter die Menschen zu verzärteln, als ihnen überlegende Vernunft, Stärke des Geistes und Herzens, Standhaftigkeit und Größe einzuflößen. Darum ist es nicht gut, wenn der Geschmak am Rührenden so die Oberhand gewinnt, daß er beynahe ein ausschließendes Recht auf die Schaubühne und auf die Romane bekommt. Man thut wol, wenn man auch hierin die Alten zum Muster nihmt, bey denen das Rührende nie herrschend worden, und sich weder der Schaubühne, noch der lyrischen Poesie, noch, so viel wir davon wissen können, der Musik mit vorzüglichem Anspruch bemächtiget hat.

Das Rührende ist aber nicht von einerley Art; es kann sich bis zum hohen Pathetischen erheben, oder auch blos bey dem gemeinen zärtlichen stehen bleiben: in jenes mischet sich immer etwas von Bewundrung; dieses erhebet sich nicht über die Schranken der gemeinen Empfindung. Eine ungewöhnliche Großmuth, eine völlige Gelassenheit, oder Gedult bey schweerem Leiden, ein unverdientes Unglük, das Personen befällt, für die wir große Hochachtung haben; ein unerwartetes Glük das Träurigkeit in Freude, Elend in Glükseeligkeit verwandelt, [990] alle dergleichen Fälle steigen ins hohe Rührende, und oft ins Erhabene. Hingegen bleiben die gewöhnlichere Fälle sanfter Freud und Traurigkeit, einer durch Hindernisse gekränkten, oder durch neue Hofnungen gereizten Zärtlichkeit, bey dem gemeinen Rührenden stehen.

Sophokles und Euripides sind reich an dem Rührenden der höhern Art, das sich zur tragischen Bühne sehr schiket, für die das gemeinere Rührende zu schwach ist. Es steht besser in der Comödie, und in Hirtenliedern, wiewol auch darin unser Geßner es ofte bis zum höhern Rührenden hebt. Auch schiket es sich ganz vorzüglich zur Elegie und zum Liede. Sappho ist bis zum Schmelzen rührend. Unter den Neuern sind Petrarcha und Racine vorzüglich als rührende Dichter bekannt; Shakespear aber übertrift in dem hohen Rührenden, und Klopstok in dem höchsten Grad des Zärtlichen, alle Dichter alter und neuer Zeit.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 990-991.
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