[1055] Schreken; Schreklich. (Schöne Künste)
Der Schreken ist eine der heftigsten und zugleich wiedrigsten Leidenschaften, und wird durch eine plözliche Gefahr, oder unversehens begegnendes schweeres Unglük verursachet. So lange der Schreken selbst anhält, ist er mehr schädlich, als nüzlich; weil er zur Ueberlegung, wie man der Gefahr entgehen, oder das Uebel vermindern könne, untüchtig macht. Aber, da er ein lebhaftes und wiedriges Andenken zurüke läßt, so kann er durch die Folge fürs künftige heilsam werden. Wer je von Schreken eine Zeitlang geängstiget worden ist, wird sich hernach sehr dafür hüten, wieder in ähnliche Umstände zu kommen.
Daraus folget, daß die schönen Künste heilsame Schreken verursachen können, wenn der Künstler die Sache mit gehöriger Ueberlegung anstellt. Die bequämste Gelegenheit dazu hat der dramatische Dichter, der uns Handlungen und Begebenheiten nicht blos erzählt, oder in einem Gemählde abbildet, sondern würklich vor das Gesicht bringt. In einigen tragischen Schauspiehlen empfindet man nicht, wie etwa bey Erzählungen, ein bloßes Schattenbild oder eine schwache Regung des Schrekens, sondern geräth in die würkliche Leidenschaft, und fühlet den Schauder eines nicht eingebildeten sondern wahren Schrekens.
Es bedärf keiner weitläuftigen Ausführung, um zu zeigen, wie der tragische Dichter sich des Vortheils, den er hat, Schreken zu erweken, zum Nuzen der Zuschauer bedienen soll. Ganz unschiklich wär es, sich desselben blos zum Zeitvertreib zu bedienen, um durch vorher gegangenen Schreken das Gemüth blos in den Genuß der angenehmen Empfindung zu sezen, die sich bey glüklich überstandener Gefahr einfindet und eine Zeitlang dauret, wie das Vergnügen, das man beym Aufwachen aus einem plagenden Traum fühlet. Verständige Menschen wünschen sich solche Träume nicht, so angenehm auch das Erwachen davon ist. Dieses dienet also dem tragischen Dichter zur Lehre, daß er seine Zuschauer nicht mit solchen leeren Schreken unterhalten soll. So oft er uns in diese Leidenschaft sezet, muß es so geschehen, daß das Andenken derselben uns eine nachdrükliche Warnung sey, uns vom Bösen abzuhalten. So hat Aeschylus in seinen Eumeniden die Athenienser in Schreken, für die Beängstigung des bösen Gewissens, gesezt.
Der Schreken ist also für das Trauerspiehl eine weit wichtigere Leidenschaft, als das Mitleiden, da dieses selten so wichtig und so heilsam werden kann1. Und doch sehen wir zehen Trauerspiehle, die nur Mitleiden erweken, gegen eines das Schreken macht; weil jenes dem Dichter viel leichter wird, als dieses. Unter der Menge der Trauerspiehldichter sind wenige, [1055] die sich glüklich bis zum Schreklichen erheben können. Aeschylus und Shakespear sind darin die zwey großen Meister, denen man, wie wol in einiger Entfernung, den Crebillon zugesellen kann.
Und doch ist es nicht schweer in den tragischen Handlungen Vorfälle zu erdenken, die Schreken verursachen könnten; aber die währe Behandlung der Sache, wodurch der Zuschauer zum wahren Schreken überrascht wird, hat desto mehr Schwierigkeit. Es muß dazu alles in der höchsten Natur und Wahrheit veranstaltet werden. Wir lachen nur über den, der uns hat schreken wollen, und zu ungeschikt gewesen, die Sachen natürlich genug zu veranstalten. Es gehöret nicht nur ein höchst pathetisches und wahrhaftig tragisches Genie dazu, sondern auch die Geschiklichkeit, die ganze Scene bis zur würklichen Täuschung wahrhaft zu machen. Und wenn der Dichter das seinige völlig dabey gethan hat, so bleibet noch die große Schwierigkeit der Vorstellung von Seite der Schauspiehler übrig. Der Schreken zeiget sich in so genau bestimmten und so gewaltsamen Würkungen auf Stimme, Gesichtsfarb, Blik der Augen, Gesichtszüge und Stellung, daß es höchst schweer ist, alles dieses in der Nachahmung zu erreichen. Auch da, wo noch nicht der Schreken selbst, sondern blos das drohende Uebel dem Zuschauer vor Augen soll gestellt werden, kann nur allzu leicht durch eine kaum merkliche Kleinigkeit die ganze Täuschung auf einmal verschwinden.
Aus diesen Gründen halten wir das Schrekhafte für den Stoff der am schweeresten zu behandeln ist, und vorzüglich ein großes Genie erfodert. Dieses bestätiget auch die Erfahrung hinlänglich. Ich besinne mich nicht in der Mahlerey etwas würklich schrekhaftes gesehen zu haben, als in Raphaels Arbeiten, denen ich noch ein paar Zeichnungen von Füßli, davon ich eine in diesem Werk beschrieben habe2, beyfügen kann. Im epischen Gedicht hat nur unser Klopstok das Schrekhafte erreicht, so weit es vielleicht irgend einem Menschen zu erreichen, möglich ist. Unter anderm verdienet seine Beschreibung vom Tode des Ischariots, als ein vorzügliches Beyspiehl hievon angeführt zu werden. Einige andere haben wir in einem andern Artikel bereits gegeben.3
Es ist sehr zu wünschen, daß die, welche dazu aufgelegt sind, diese Leidenschaft für so manche besondere Fälle, da sie heilsam werden kann, im Trauerspiehl, dessen Gebrauch sich immer viel weiter, als der Gebrauch der Epopöe erstrekt, bearbeiteten.