Sonate

[1094] Sonate. (Musik)

Ein Instrumentalstük von zwey, drey oder vier auf einander folgenden Theilen von verschiedenem Charakter, das entweder nur eine oder mehrere Hauptstimmen hat, die aber nur einfach besezt sind: nachdem es aus einer oder mehreren gegen einander concertirenden Hauptstimmen besteht, wird es Sonata a solo, a due, a tré etc. genennet.

Die Instrumentalmusik hat in keiner Form bequemere Gelegenheit, ihr Vermögen, ohne Worte Empfindungen zu schildern, an den Tag zu legen, als in der Sonate. Die Symphonie, die Ouvertüre, haben einen näher bestimmten Charakter; die Form eines Concertes scheint mehr zur Absicht zu haben, einem geschikten Spieler Gelegenheit zu geben, sich in Begleitung vieler Instrumente hören zu lassen, als zur Schilderung der Leidenschaften angewendet zu werden. Außer diesen und den Tänzen, die auch ihren eigenen Charakter haben, giebt es in der Instrumentalmusik nur noch die Form der Sonate, die alle Charaktere und jeden Ausdruk annihmt. Der Tonsezer kann bey einer Sonate die Absicht haben, in Tönen der Traurigkeit, des Jammers, des Schmerzens, oder der Zärtlichkeit, oder des Vergnügens und der Fröhlichkeit ein Monolog auszudrüken; oder ein empfindsames Gespräch in blos leidenschaftlichen Tönen unter gleichen, oder von einander abstechenden Charakteren zu unterhalten; oder blos heftige, stürmende, oder contrastirende, oder leicht und sanft fortfließende ergözende Gemüthsbewegungen zu schildern. Freylich[1094] haben die wenigsten Tonsezer bey Verfertigung der Sonaten solche Absichten, und am wenigsten die Italiäner, und die, die sich nach ihnen bilden: ein Geräusch von willkührlich auf einander folgenden Tönen, ohne weitere Absicht, als das Ohr unempfindsamer Liebhaber zu vergnügen, phantastische plözliche Uebergänge vom Fröhlichen zum Klagenden, vom Pathetischen zum Tändelnden, ohne daß man begreift, was der Tonsezer damit haben will, charakterisiren die Sonaten der heutigen Italiäner, und wenn die Ausführung derselben die Einbildung einiger hizigen Köpfe beschäftiget, so bleibt doch das Herz und die Empfindungen jedes Zuhörers von Geschmak oder Kenntnis dabey in völliger Ruhe.

Die Möglichkeit, Charakter und Ausdruk in Sonaten zu bringen, beweisen eine Menge leichter und schweerer Claviersonaten unsers Hamburger Bachs. Die mehresten derselben sind so sprechend, daß man nicht Töne, sondern eine verständliche Sprache zu vernehmen glaubt, die unsere Einbildung und Empfindungen in Bewegung sezt, und unterhält. Es gehört unstreitig viel Genie, Wissenschaft, und eine besonders leicht sängliche und harrende Empfindbarkeit dazu, solche Sonaten zu machen. Sie verlangen aber auch einen gefühlvollen Vortrag, den kein Deutsch-Italiäner zu treffen im Stande ist, der aber oft von Kindern getroffen wird, die bey Zeiten an solche Sonaten gewöhnt werden. Die Sonaten eben dieses Verfassers von zwey concertirenden Hauptstimmen, die von einem Baß begleitet werden, sind wahrhafte leidenschaftliche Tongespräche; wer dieses darin nicht zu fühlen oder zu vernehmen glaubt, der bedenke, daß sie nicht allezeit so vorgetragen werden, wie sie sollten. Unter diesen zeichnet sich eine, die ein solches Gespräch zwischen einem Melancholicus und Sanguineus unterhält, und in Nürnberg gestochen ist, so vorzüglich aus, und ist so voller Erfindung und Charakter, daß man sie für ein Meisterstük der guten Instrumentalmusik halten kann. Angehende Tonsezer, die in Sonaten glüklich seyn wollen, müssen sich die Bachischen und andre ihnen ähnlichen zu Mustern nehmen.

Für Instrumentspieler sind Sonaten die gewöhnlichsten und besten Uebungen; auch giebt es deren eine Menge leichter und schweerer für alle Instrumente. Sie haben in der Cammermusik den ersten Rang nach den Singstüken, und können, weil sie nur einfach besezt sind, auch in der kleinesten musikalischen Gesellschaft ohne viele Umstände vorgetragen werden. Ein einziger Tonkünstler kann mit einer Claviersonate eine ganze Gesellschaft oft besser und würksamer unterhalten, als das größte Concert.

Von Sonaten von zwey Hauptstimmen, mit einem blos begleitenden oder concertirenden Baß, wird im Artikel Trio umständlicher gesprochen werden.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1094-1095.
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