Versart

[1223] Versart.

Unter diesem Worte verstehen wir nicht die metrische Beschaffenheit eines einzigen Verses, wodurch er sich von andern unterscheidet, sondern die metrische und rhythmische Einrichtung eines ganzen Gedichtes. Man müßte ein sehr hartes Gefühl haben, um nicht zu merken, daß die Versart für den Inhalt und den Ton des Gedichtes gar nicht gleichgültig sey. Wer würde eine epische Erzählung in der kurzen anakreontischen Versart, oder ein tändelndes Lied in dem feyerlichen Hexameter vertragen können?

[1223] Wenn also das Gedicht auch in seiner metrischen Sprache vollkommen seyn soll, so muß eine schikliche Versart für dasselbe gewählt werden. Aber weder die Arten der Gedichte, noch die Versarten können alle bestimmt werden: und wenn dieses auch angienge, so würde doch allem Ansehen nach Niemand im Stande seyn, für jedes Gedicht gerade die Versart zu bestimmen, die sich am besten dazu schikte. Man muß sich also hier blos mit allgemeinen Anmerkungen begnügen; aber auch dabey hat man sich noch sehr in Acht zu nehmen, daß man der Versart weder zu viel einräume, noch ihre Kraft für gar zu gering halte.

Man hat sich bis dahin in Ansehung der Gedichtsarten damit begnügen müssen, sie in gewisse, nur einigermaaßen bestimmte, Classen oder Gattungen einzutheilen: als lyrische, epische, dramatische u. s. w: und näher, oder genauer, lassen sich auch die Versarten nicht bestimmen. Unsers Erachtens kommt es bey der Beurtheilung, wie schiklich oder unschiklich eine Versart für diese oder jene Gedichtart sey, darauf an, daß man so gut es angeht, sich richtige Vorstellungen von der Art der Empfindung mache, die in dem Gedicht herrscht, und hernach die Empfindung dagegen halte, die durch die Versart geschildert, oder erwekt wird. Die verschiedenen Tanzmelodien sind im Grunde nichts anders, als Versarten, deren jede eine besondere, oder doch besonders schattirte Empfindung erwekt, und unterhält. Nun ist offenbar, daß es fröhliche, komische, zärtliche, ernsthafte, heftige, gemäßigte, Tanzmelodien giebt; und schon daraus muß man den Schluß ziehen, daß es auch dergleichen Versarten gebe, daß folglich ein trauriges Gedicht eine andre Versart erfodere, als ein lustiges.

Doch muß man hiebey als eine sehr wesentliche Beobachtung anmerken, daß die blos todte Stellung der langen und kurzen Sylben, und der daher entstehende Rhythmus die Sache noch nicht ausmache. Bey den Tonstüken kommt es hauptsächlich auf den jedem Stük eigenen und genau bestimmten Grad der geschwinden, oder langsamen Bewegung, und die geringere oder stärkere Lebhaftigkeit in Anschlagung, oder dem Vortrag, der Töne an. Eine Menuet hört ganz auf das zu seyn, was sie seyn soll, wenn sie merklich geschwinder, oder merklich langsamer, lebhafter oder matter, als ihr zukommt, vorgetragen wird. Und eben dieses zeiget sich auch in der Versart. Folgende einzele Verse


Gebt meiner Phyllis den Kranz!


und:


Dämpfet die schrekliche Gluth!


haben, wenn man nicht auf den Vortrag sieht, vollkommen einerley Metrum, und machen einerley Rhythmus. Durch den richtigen Vortrag wird der erste fröhlich, der zweyte fürchterlich: jener hat eine fröhliche, dieser eine traurige Lebhaftigkeit.

Hieraus kann man abnehmen, daß es bey der Versart nicht blos auf die mechanische Anordnung ankomme und; daß ein und eben dieselbe Versart sich zu ganz verschiedenem Ausdruk schiken könne, nachdem der Sinn der Worte einen Vortrag veranlasset. Wir finden auch in der That, daß Horaz dieselbe Versart zu Oden von sehr verschiedenen Charakter gewählt hat. Also läßt sich aus der todten Bezeichnung der Versart, die jeden Vers nach der Beschaffenheit und Folge seiner Füße durch Zeichen ausdrükt, noch sehr wenig schließen. Man kann die Probe mit Klopstoks Oden machen, deren Versart insgemein auf diese Art vorgezeichnet ist. Niemand wird aus den Vorzeichnungen errathen, was für ein besonderer Ton oder Ausdruk in jeder Ode herrsche; dieser wird erst durch den Vortrag bestimmt.

Deswegen kann man dem Dichter über die Wahl der Versart keine besondere Regeln geben; man ist durch die Natur der Sache genöthiget, bey wenigen allgemeinen Anmerkungen stehen zu bleiben.

Eigentlich unterscheidet sich die gebundene Rede von der Prosa dadurch, daß sie in ihrem metrischen Gange gleichförmiger fließt. So bald eine Sprach etwas ausgebildet ist, nihmt zwar auch die prosaische Red in derselben, etwas rhythmisches an sich, in dem allemal einzele Redesäze nach einem gewissen Wolklang geordnet werden. Aber zwischen den verschiedenen auf einander folgenden Gliedern der ungebundenen Rede, wenn gleich jedes ein wolklingendes Metrum hat, findet man nicht die Uebereinstimmung, die ihnen die Gleichheit des Charakters gäbe, die in der gebundenen Red allemal angetroffen wird. Die beste Prosa, in einzele Glieder abgesezt, zeiget uns eine Folge, in der wir kein gleichartiges Metrum, keinen anhaltenden Rhythmus, entdeken. Wenn auch jedes einzele Glied ein würklicher Vers wäre, so ist es metrisch und rhythmisch betrachtet [1224] von andrer Art, als die nächst vorhergehenden und folgenden. Also ändert sich der Charakter, oder das ästhetische des Klanges von einem Gliede zum andern; und wenn gleich jeder einzele Saz einen sehr guten Vers ausmachte, so würde doch in der Folge der Säze das genau abgemessene, und in gewissen Zeiten wiederkommende, vermißt werden.

Der natürliche Grund dieses Unterschieds zwischen der gebundenen und ungebundenen Rede, scheinet daher zu kommen, daß der Dichter in Empfindung; in einem höhern, oder geringern Grad der Begeisterung, spricht, die er an den Tag zu legen, und durch den Rhythmus zu unterhalten sucht, da der in Prosa redende, blos auf die Folge seiner Begriffe sieht und die Unterstüzung der Empfindung, durch das Abgemessene der Rede nicht sucht.

Da nun die gebundene Red überhaupt aus einer, wenigstens eine Zeitlang gleich anhaltenden, Empfindung entstehet, so folget daraus überhaupt, daß man den Werth, oder die Schiklichkeit jeder Versart aus der Natur der Empfindung, oder Laune, die im Gedichte herrscht, beurtheilen müsse. Beyspiehle werden dieses begreiflich machen.

Wer blos lehren, oder zum bloßen Unterricht erzählen will, kann zwar von seiner Materie in einem Grad gerührt seyn, daß er sie in gebundener Rede vorträgt, aber das Rhythmische derselben, wird natürlicher Weise schwächer seyn, und der ungebundenen Rede näher kommen, als wenn er stärker gerührt wäre. Da seine Rede mehr vom Verstand, als von der Empfindung geleitet wird, so wird wenig Gesang darin seyn. Zu dergleichen Inhalt schiket sich demnach eine freye Versart. Die schwache Laune des Dichters wird ohne genau bestimmten Rhythmus durch metrische Gleichförmigkeit schon genug unterstüzt. Kürzere und längere Verse, wann auch keiner dem andern rhythmisch gleich wäre, können auf einander folgen. Aber im Sylbenmaaße wird doch, wo nicht eine ganz strenge, doch eine merkliche Gleichförmigkeit herrschen; sie wird allemal ganz, oder eine Zeitlang jambisch, oder trochäisch fortfließen. Der epische Dichter, auch der Lehrende, der seine Materie schon mit gleich anhaltender Feyerlichkeit vorträgt; fällt natürlicher Weise, auf eine schon mehr gebundene Sprache, und sucht schon mehr einen anhaltenden Rhythmus. Er spricht durchaus, oder doch immer eine Zeitlang in gleichen rhythmischen Abschnitten. Von dieser Art ist unsre alexandrinische, und auch die griechische und lateinische epische Versart, die in Hexametern fließt.

Noch bestimmter und tiefer ist der lyrische Dichter gerührt, dessen Materie selbst durchaus gleichartiger ist. Er äußert blos Empfindung, und alles was er sagt, entstehet, nicht sowol aus Nachdenken, oder aus dem Verstande, als aus Empfindung. Darum ist ihm eine genauer abgepaßte, oder strengere Versart natürlich, die, wie wir vom gleichen Rhythmus angemerkt haben, die Empfindung nicht nur unterhält, sondern verstärkt. Soll die Empfindung lang in einem Tone fortgehen, so schiket sich die strophische Eintheilung vollkommen gut dazu, wie aus dem erhellet, was wir im Artikel von Rhythmus über die Tanzmelodien angemerkt haben. Denn starke Empfindungen pflegen nicht lang anhaltend zu seyn, wenn sie nicht immer neu unterstüzt, oder genährt werden.

Der Odendichter befindet sich schon in einer merklich andern Gemüthslage, als der ein Lied dichtet;1 Darum ist es auch natürlich, daß die Versart verschieden sey. In beyden Fällen, ist die strophische Eintheilung natürlich; aber unter den zu einer Strophe gehörigen Versen, wird im Liede mehr Gleichförmigkeit seyn, als in der Ode; weil das Lied eine vollkommen gleich anhaltende Empfindung voraussezet.

Diese Anmerkungen scheinen mir wenigstens aus der Natur der Sache zu folgen. Ob sie aber einer noch näheren Anwendung auf die Beschaffenheit der verschiedenen Versarten fähig seyen, getraue ich mir nicht zu sagen. Niemand scheint fähiger zu seyn, diese Materie gründlich auszuführen, als unser Klopstok, wie die von ihm bekannt gemachten Fragmente über die Theorie des Versbaues und der Versarten hinlänglich beweisen.

1Dieses ist im Art. Lied gezeiget worden.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1223-1225.
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