[539] Kammern werden die Versammlungen der Stände (s.d.) eines Staats genannt, welche zur Berathung über das allgemeine Wohl des Landes betreffende Gegenstände zusammenzutreten pflegen, sowie die Orte, an welchen jene Zusammenkünfte abgehalten zu werden pflegen.
Wenn alle Stände ihre Berathungen gemeinschaftlich abhalten, so sagt man: der Staat habe nur Eine Kammer, wogegen zwei Kammern da stattfinden, wo es zwei Abtheilungen der Stände gibt, von denen jede ihren besondern Versammlungsort und ihre besondern Berathungen hat und deren Verhältniß zueinander, sowie das beider Kammern gegen die Regierung, gesetzlich geordnet ist. Schon in frühesten Zeiten gab es bei den germanischen Völkern Versammlungen, die theils aus den Vornehmsten, theils aus Abgeordneten bestanden und welche auf die Staatsangelegenheiten einen mehr oder weniger bedeutenden Einfluß ausübten. Später kam die Gewalt immer mehr in die Hände der Fürsten, theils durch die Sucht der einzelnen Corporationen, besondere Vorrechte zu erlangen, worüber sie den Einfluß auf allgemeine Angelegenheiten, sowie den Sinn für dieselben verloren, theils durch das Streben der Fürsten nach Ansehen und Macht, wobei Priester und Soldaten behülflich waren, theils endlich durch das Emporkommen des Bürgerstandes. Dieser war nämlich in den ältesten germanischen Staaten nicht vorhanden, hatte daher bei seiner allmäligen Ausbildung keine ständischen Rechte und konnte sich nur durch den Schutz der Fürsten erhalten. Indem aber diese sich desselben annahmen und er immer bedeutender wurde, verschwand das Ansehen der alten Stände immer mehr vor dem der Fürsten, welches sich auf die Bedeutenheit des Bürgerstandes stützte. Der Adel wurde gedemüthigt, der Bauernstand unterjocht, zunächst von dem Adel, der die Bauern erst als Schützlinge, dann als Unterthanen behandelte. Die Misverhältnisse, welche sich in den deutschen Staaten durch die gänzliche Umänderung der Stände gebildet hatten, führten allmälig zu neuen ständischen Verfassungen mit einer Kammer oder mit zweien, die den neuen Zeitbedürfnissen gemäß [539] sind und in welchen das alte Recht des Volkes, durch seine Stellvertreter die Steuern zu bewilligen und Gesetzesvorschläge zu prüfen, wieder anerkannt ist. Am frühesten bildete sich auf den Grund der berühmten Magna charta (s.d.) eine zeitgemäße ständische Verfassung in England aus. Hier nämlich bestehen seit dem Anfange des 13. Jahrh. zwei Kammern. In der ersten oder dem Oberhause versammeln sich die Mitglieder der vornehmen Geistlichkeit und der hohe Adel, während der niedere Adel und die Vertreter der Städte das Unterhaus oder die zweite Kammer bilden. Allerdings bestanden die engl. Kammern Jahrhunderte lang fast nur dem Namen nach, wie sich aber das Volk allmälig geistig immer mehr emporarbeitete, fand es in den Kammern Gelegenheit, seine den veränderten Zeitumständen entsprechenden Anfoderungen auf gesetzlichem Wege geltend zu machen. (Vgl Großbritannien und Irland.) Aus den Verwirrungen der franz. Revolution ging endlich das despotische Kaiserreich hervor und nach dessen Sturz wurde mit den Bourbons eine Verfassung eingeführt, nach welcher zwei Kammern bestehen. Diese sind in der Folge auch bei manchen Veränderungen ihrer Einrichtung beibehalten worden. Die erste ist die Kammer der Pairs, die zweite die Deputirtenkammer. Die letztere hält ihre Sitzungen in dem umstehend abgebildeten Palaste Bourbon, der 1721 von der Herzogin von Bourbon gegründet wurde, aber erst später seine herrlichen Verzierungen erhielt. Während der Revolution wurde er geplündert, indem ihn vorher die Prinzen aus dem Hause Condé bewohnten, und 1798 hielt der Rath der Fünfhundert hier seine Sitzungen. Der Versammlungssaal hat die Gestalt eines Halbkreises, dessen Grundlinien der Präsidentenstuhl und die Schreibepulte der Secretaire einnehmen. Die Deputirten sitzen in einer Art Amphitheater und ordnen sich so, daß die linke Seite von den liberalen, die rechte von den royalistischgesinnten und die Mitte (das Centrum) von den gemäßigten Mitgliedern der Kammer eingenommen werden. (Vgl. Frankreich.) In kleinern Staaten hat man mit Recht gewöhnlich nur Eine Kammer eingeführt, in größern Staaten dagegen haben sich zwei Kammern als zweckmäßiger erwiesen. Die zweite Kammer pflegt, wie es der Stand ihrer Mitglieder erfodert, in der Regel für fortwährende Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse zu sein, weil im Leben des Volkes selbst eine fortwährende Umgestaltung vor sich geht, wogegen die erste Kammer, aus der hohen Geistlichkeit und den reichen und vornehmen Grundbesitzern bestehend, mehr auf Aufrechthaltung des Bestehenden zu sehen pflegt, und es ist gewiß, daß nur, wenn beider Kammern Interessen im Staate wahrgenommen werden, ein wirklicher Wohlstand desselben sich erhalten kann, denn nur dann wird der Fortschritt ohne Übereilung und Überschätzung wahrhaft zeitgemäß erfolgen.