Möglichkeit

[679] Möglichkeit (dynamis, possibilitas, potentia) ist: 1) die Denkbarkeit einer Sache, das Gedacht-werden-können den Denkgesetzen gemäß, die Widerspruchslosigkeit (formal-logische Möglichkeit), 2) das Seinkönnen einer Sache, eines Geschehens, einer Relation, die objective Denkbarkeit, gemäß den Gesetzen der Erfahrung, der erfahrbaren Wirklichkeit (materiale oder reale Möglichkeit), 3) die Potenz, das Vermögen (s. d.). Die logische (und die reale) Möglichkeit ist keine Eigenschaft der Dinge, sondern nur ein Ausdruck für eine Beziehung zwischen dem Denken und dessen Objecten, für die Erwartung eines Tatbestandes auf Grund der bisherigen Erkenntnis. Unmöglich ist, was entweder den Denkgesetzen oder der wissenschaftlich verarbeiteten Erfahrung widerspricht.

Der Megariker DIODOR behauptet, alles Mögliche sei auch wirklich und notwendig (s. Kyrieuon). Eisi de tines hoi phasin, hoion hoi Megarikoi, hotan energê monon dynasthai, hotan de mê energê ou dynasthai, hoion ton mê oikodomounta ou dynasthai oikodomein, alla ton oikodomounta, hotan oikodomê (Aristot., Met. IX 3, 1046b 29 squ.). »Placet autem Diodoro id solum fieri posse, quod aut verum sit aut verum futurum sit... Nihil fieri, quod non necesse fuerit« (Cicer., De fato 17). Den Begriff der real-metaphysischen Möglichkeit (Potenz, (s. d.)) prägt ARISTOTELES aus. Das Mögliche, dynamei on (die Materie, (s. d.)), ist das, was für sich noch nicht ist, wohl aber durch die Form (s. d.) realisiert wird, es ist also die dynamis reale Seins-Möglichkeit, nicht nur Denkbarkeit (De interpret. 12). Die Erde z.B. ist dynamei, Mensch (Met. IX 7, 1049 a 1); esti de dynaton touto, hô ean hyparxê hê energeia hou legetai echein tên dinamin, ouden estai adynaton (Met. IX 3, 1047 a 24; V, 12); adynamia d' esti sterêsis dynameôs kai tês toiautês archês (Met. V 12, 1019b 16). Die Ansicht des[679] Diodor wird von CHRYSIPP bestritten. Nach PLOTIN besteht die dynamis in einer Art hypokeimenon für Affectionen, Gestalten, Formen, die aufzunehmen sind (Enn. II, 5, 1: vgl. II, 5, 5).

Nach ABAELARD ist nur das möglich, was Gott wirklich geschaffen hat. Nach THOMAS sind »possibilia«, »quae contingunt esse et non esse« (9 met. 3); »dicitur possibile, quod potest esse et non esse« (Contr. gent. III, 86). Es gibt, »possibilitas absoluta« und »ex suppositione« (vgl. Vermögen). DUNS SCOTUS bestimmt: »Possibile logicum est modus compositionis formatae ab intellectu, illius quidem cuius termini non includunt contradictionem,... sed possibile reale est, quod accipitur ab aliqua potentia in re sicut a potentia inhaerente alicui vel terminata ad illud sicut ad terminum« (Sent. I, d. 2, qu. 7). – MIRAELIUS definiert: »Possibile (igitur) est, quod non involvit repugnuatiam« (Lex. philos. p. 871).

HOBBES erklärt den Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit für einen bloß relativen (De corp. C. 10, 1; 4; 6). SPINOZA definiert: »Res possibilis itaque dicitur, cum eius causam efficientem quidem intelligimus, attamen, an causa determinata sit, ignoramus« (Cogit. met. I, 3). »Res singulares voco possibiles, quatenus, dum ad causas, ex quibus produci debent, attendimus, nescimus, an ipsae determinatae sint ad easdem producendum« (Eth. IV, def. IV). »Res aliqua impossibilis dicitur, nimirum quia vel ipsius essentia seu definitio contradictionem involvit, vel quia nulla causa externa datur ad talem rem producendam determinata« (Eth. I, prop. XXXIII, schol.). »Quicquid concipimus in Dei potestate esse, id necessario est« (Eth. I, prop. XXXV). LEIBNIZ hingegen neigt der (scholastischen) Ansicht zu, in der göttlichen Vernunft seien unendlich viele Möglichkeiten, von denen nur ein Teil, das miteinander Verträgliche (»le compossible«) und Beste, verwirklicht werde (Princ. de la nat. 10; Theod. I B, § 225). – »Tout ce qui n'implique point de contradiction, est possible« (Theod. I B, § 224). TSCHIRNHAUSEN bestimmt: »Possibile est, quod concipi potest« (Med. ment. I, 1). CHR. WOLF definiert: »Possibile est, quod nullam contradictionem involvit« (Ontolog. § 85). »Impossibile dicitur, quicquid contradictionem involvit« (l.c. § 79). Möglich ist, »was nichts Widersprechendes in sich enthält« (Vern. Ged. I, § 12). Metaphysisch möglich ist etwas, »weil es von dem göttlichen Verstande vorgestellet wird« (l.c. § 975). Bestimmungen des Möglichen gibt 11:. S. REIMARUS (Vernunftlehre § 98 ff.). CRUSIUS erklärt als möglich »was gedacht wird, aber noch nicht existieret, oder von dessen Existenz wir noch abstrahieren« (Vernunftwahrh. § 56). Nach PLATNER ist möglich, »was als Begriff frei ist von Widerspruch« (Philos. Aphor. I, § 819; vgl. Log. u. Met. S. 89, 92).

KANT rechnet den Begriff der Möglichkeit zu den modalen Kategorien (s. d.). »Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich« (Krit. d. r. Vern. S. 202). »Daß der Begriff vor der Wahrnehmung vorhergeht, bedeutet dessen bloße Möglichkeit« (l.c. S. 207). »Der Begriff ist allemal möglich, wenn er sich nicht widerspricht. Das ist das logische Merkmal der Möglichkeit, und dadurch wird sein Gegenstand vom nihil negativum unterschieden. Allein er kann nichtsdestoweniger ein leerer Begriff sein, wenn die objective Realität der Synthesis, dadurch der Begriff erzeugt wird, nicht besonders dargetan wird, welches aber jederzeit,... auf Principien möglicher Erfahrung und nicht auf dem Grundsatze der Analysis (dem Satze des Widerspruchs) beruht. Das ist eine Warnung,[680] von der Möglichkeit der Begriffe (logische) nicht sofort auf die Möglichkeit der Dinge (reale) zu schließen« (l.c. S. 471). »Alles, was in sich selbst widersprechend ist, ist innerlich unmöglich« (WW. II, 121). Die »Möglichkeit der Erkenntnis« zu begründen, ist Aufgabe der Vernunftkritik (s. Kritik). FRIES bemerkt: »Wenn wir... die Gesetze für eine Begebenheit im allgemeinen (durch Denken), nicht aber die näheren Umstände des einzelnen Falles (durch Anschauung) kennen und nun diesen nicht genau genug bekannten Fall nur mit der allgemeinen Regel vergleichen, so nennen wir die Bestimmung desselben eine bloße Möglichkeit« (Syst. d. Log. S. 160). Nach BOUTERWEK ist das Mögliche (logisch) »das vernünftigerweise Denkbare« (Lehrb. d. philos. Wissensch. I, 114). Die metaphysische Wirklichkeit bezieht sich auf die Causalität, auf das »Können« (l.c. S. 115 f.). J. G. FICHTE betont: »Ich kann etwas Mögliches setzen, lediglich im Gegensatze mit einem mir schon bekannten Wirklichen. Alle bloße Möglichkeit gründet sich auf die Abstraction von der bekannten Wirklichkeit. Alles Bewußtsein geht sonach aus von einem Wirklichen« (Syst. d. Sittenl. S. 290). J. J. WAGNER erklärt: »Nur das Mögliche kann wirklich werden, aber alles Mögliche muß wirklich werden«, mit Einschränkung auf die im Schoße des Möglichen entstandenen Gegensätze und deren gelungene Vermittlung (Organ. d. menschl. Erk. S. 102). HEGEL bestimmt die Möglichkeit als »die leere Abstraction der Reflexion-in-sich«, die »bloße Form der Identität-mit-sich« (Encykl. § 143), als ein äußeres »Moment« (s. d.) der Wirklichkeit (l.c. § 145). Es gibt »formelle« und »reale« Möglichkeit (WW. IV, 203, 208; vgl. SCHELLING, WW. II 2, 526). CHR. KRAUSE betont: »Im Ewigen... ist kein Gegensatz des Notwendigen, Wirklichen und Möglichen, welcher nur im Zeitlichen und in seinem Verhältnisse zum Ewigen sich findet. Denn das Zeitliche ist wirklich, sofern es überhaupt in bestimmter Zeit; möglich, sofern es in bestimmter Zeit zufolge bestimmter ursachlicher Bedingungen; notwendig endlich, sofern diese ursachlichen Bedingungen eins sind mit dem ewigen Urwesentlichen des lebenden Wesen« (Urb. d. Menschh.3, S. 330). HILLEBRAND erklärt: »Vor der metaphysischen Anschauung der Dinge ist... das Mögliche, als solches, auch das Wirkliche« und Notwendige. »Insofern jedoch der unendliche Inhalt des Daseins dem Gedanken nicht unmittelbar und absolut offenbar wird, können diejenigen Momente, welche nicht sofort notwendig gedacht werden, sondern sich im allgemeinen erst nur denken lassen, ohne daß ihre concrete Bestimmtheit noch zum Bewußtsein gekommen ist, unter die Kategorie der Möglichkeit fallen« (Philo(s. d.) Geist. I, 36). Nach TRENDELENBURG beruht die Möglichkeit auf einem »Vorgreifen des Gedankens« und auf einer Ergänzung der vorhandenen Bedingungen durch die gedachten (Log. Unters. II2, 167). W. ROSENKRANTZ bestimmt: »Logisch möglich ist alles Denkbare, was sich nicht widerspricht, physisch möglich dagegen nur dasjenige, zu dessen Wirklichkeit die Bedingungen außer dem Denken gegeben sind« (Wissensch. d. Wiss. I, 134). Möglichkeit ist eine Kategorie (l.c. II, 224 ff.), eine Nebenkategorie von ()rund und Folge (l.c. S. 232), eine Kategorie nur des endlichen Denkens (l.c. S. 234). Der Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit besteht nur in der Beziehung des Denkens auf die äußere Natur, nicht im Denken oder in der Natur allein (l.c. S. 231). Nach CHALYBAEUS ist die Möglichkeit weder nur subjectiv, noch ontologisch, sondern ein Verhältnis beider Seinsweisen. Das Mögliche ist »das Wißbare oder Erkennbare« (Wissenschaftslehre S. 233, 237; vgl. BRANISS, Syst. d. Met. S. 282 f.). Nach PLANCK: sagt[681] »Möglichkeit« aus, »daß jedes Object bedingt sei durch die Zusammenstimmung mit dem Vorausgehenden in ihm, so daß auch das im freien Vorstellen Vorausgesetzte zugelassen sein muß« (Testam. ein. Deutsch. H. 320). E. v. HARTMANN unterscheidet »logische (passive)« und »dynamische (active)« Möglichkeit. »Die erstere bedarf eines Anstoßes, um sich zu entfalten, eines Gegenstandes, um sich auf ihn anzuwenden, eines Gegensatzes, um mit logischer Betätigung zu reagieren; die letztere dagegen reagiert von selbst ohne jeden außer ihr belegenen Anstoß« (Kategorienlehre S. 357). G. SPICKER definiert: »Logisch möglich ist alles, was sich selbst nicht widerspricht; metaphysisch möglich, was in dem letzten Grund potentiell vorhanden ist« (Vers. ein. neuen Gottesbegr. S. 162). Nach HAGEMANN ist das Mögliche »das Denkbare oder Widerspruchslose«. »Die Abwesenheit des Widerspruchs macht die innere oder absolute Möglichkeit aus.« Das Vorhandensein eines Grundes oder einer Ursache, welche das an sich Mögliche zu verwirklichen vermag, macht die äußere oder relative Möglichkeit aus. »Das absolut Mögliche oder das Denkbare macht das metaphysisch Mögliche aus, und dieses umfaßt den Kreis dessen, was durch Gott, die unendliche Ursache, verwirklicht werden kann. Das relativ Mögliche teilt man ein in das physisch und das moralisch Mögliche. Ersteres ist dasjenige, was durch die Kräfte der Natur verwirklicht werden, letzteres dasjenige, was nach dem. regelmäßigen Laufe der Weltereignisse geschehen kann« (Met 2, S. 14 f.). Nach G. H. LEWES ist Möglichkeit »the ideal admission as present of absent factors: it states what would be the fact, if the requisite factor were present« (Probl. of Life and Mind I, 397). Nach FR. SCHULTZE ist für uns möglich »das Erfahrbare, d.h. alles, was den Bedingungen der menschlichen Erfahrungsfähigkeit nicht widerspricht« (Philo(s. d.) Naturwissensch II, 345 f.). Unmöglich für uns ist alles Außerräumliche, Außerzeitliche, Außerursächliche, Außerempfindliche (l.c. S. 346). Nach SIGWART ist logisch möglich, »was weder zu bejahen noch zu verneinen notwendig« (Log. I2, 231 ff., 244, 265 ff.). SCHUPPE erklärt: »Möglichkeit (Können) hat nur den Sinn eines bestimmten Verhältnisses unter genannten Qualitäten als solchen, daß a allerdings weder gerade c noch d noch e fordert und auch keines durch sich selbst ausschließt, aber daß es doch um seiner Natur willen durchaus eines von ihnen fordert, daß sowohl c als auch d als auch e ein a fordern, in seiner Anwesenheit also eine Bedingung ihres Erscheinens haben« (Log. S. 67). »Behauptung von Möglichkeit meint also ein gesetzliches Verhältnis unter Qualitäten, nicht die Existenz einer Bedingung« (l.c. S. 68). Das »Mögliche« bezeichnet nur bestimmte Relationen innerhalb des Notwendigen (l.c. S. 133; vgl. Erk. Log. X; Grdz. d. Eth. S. 63 ff.). Nach SCHUBERT-SOLDERN ist reine Möglichkeit dies, »da, erfahrungsgemäß, nichts hindert, irgend eine Tatsache oder einen Complex von Daten mit andern Daten verbunden zu erwarten, ohne deswegen aber auch einen Grund für positive Erwartung dieser Verknüpfung angeben zu können« (Gr. ein. Erk. S. 231 f.). Nach J. V. KRIES bedeutet in vielen Fällen die Möglichkeit eines Ereignisses nur dessen Ungewißheit. Objectiv möglich aber ist das Eintreten eines Ereignisses unter gewissen ungenau bestimmten Umständen, »wenn Bestimmungen dieser Umstände denkbar sind, welche gemäß den factisch geltenden Gesetzen des Geschehens das Ereignis verwirklichen würden« (Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. 12. Bd., S. 180 f.). Nach B. ERDMANN ist Möglichkeit »lediglich eine Bestimmung des Gedachtwerdens« (Log. I, 382). Nach HÖFLER negieren wir durch die Behauptung der Möglichkeit »das Bestehen einer [682] Unverträglichkeits-Relation« (Grundl. d. Log. S. 76). R. AVENARIUS erklärt: »Verlegt sich das Können auf das, denkbare Künftige selbst, so erscheint dieses nicht mehr als etwas, das gedacht werden kann, sondern als etwas, welches sein kann, und d.h. in der Modification des Möglichen« (Krit. d. r. Erfahr. II, 121). Nach G. SIMMEL ist »Möglichkeit« »die gedankenmäßige Anticipation einer künftigen Entwicklung« (Einl. in d. Mor. II, 220); sie drückt »die Unvollständigkeit der Einsicht in die Gründe der Wirklichkeit« aus, mit der sie sachlich zusammenfällt (l.c. I, 38). Vgl. Modalität, Notwendigkeit, Vermögen.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 679-683.
Lizenz:
Faksimiles:
679 | 680 | 681 | 682 | 683
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Stramm, August

Gedichte

Gedichte

Wenige Wochen vor seinem Tode äußerte Stramm in einem Brief an seinen Verleger Herwarth Walden die Absicht, seine Gedichte aus der Kriegszeit zu sammeln und ihnen den Titel »Tropfblut« zu geben. Walden nutzte diesen Titel dann jedoch für eine Nachlaßausgabe, die nach anderen Kriterien zusammengestellt wurde. – Hier sind, dem ursprünglichen Plan folgend, unter dem Titel »Tropfblut« die zwischen November 1914 und April 1915 entstandenen Gedichte in der Reihenfolge, in der sie 1915 in Waldens Zeitschrift »Der Sturm« erschienen sind, versammelt. Der Ausgabe beigegeben sind die Gedichte »Die Menscheit« und »Weltwehe«, so wie die Sammlung »Du. Liebesgedichte«, die bereits vor Stramms Kriegsteilnahme in »Der Sturm« veröffentlicht wurden.

50 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon