Novelle

[735] Novelle. Mit diesem in Deutschland erst seit dem 18. Jahrhundert aufgekommenen Namen, der ursprünglich von den Italienern aufgebracht wurde und so viel als neue Erzählung bedeutet, benennt man in der Litteraturgeschichte verschiedene Erscheinungen, die darin zusammentreffen, dass es schriftstellerische Erzeugnisse erzählender Natur sind, welche, kürzeren Umfangs, von geringerer Verwicklung, leichten Inhaltes, die Phantasie angenehm reizen. Sie stehen im Gegensatz teils zur eigentlichen Historie, teils zur alten Sage – mhd. niuwe maere im Gegensatze zu alten maeren –, teils zur ausgeführten Epopöie; auch das Element des Spottes und Witzes ist ihnen, gegenüber dem würdigern Ernste der ältern epischen Dichtungen, eigen, und der Umstand, dass hier dem Verfasser freie Erfindung des ganzen Inhaltes gestattet ist, was die ältere Epik ebenfalls nicht kannte. Auf die äussere Form, ob Verse oder Prosa, kommt es ursprünglich nicht an; je nachdem sich die Novelle aus verschiedenen ältern Erscheinungen entwickelt, bedient sie sich dieser oder jener Form.

Lateinisch geschriebene Novellen findet man als anmutige Geschichten, Anekdoten und Legenden schon früh zerstreut bei den ältern Geschichtschreibern des Mittelalters; in reicherer Zahl beisammen zuerst in dem Policraticus des Johann von Salisbury, 1159 dem Kanzler Thomas Becket gewidmet. Johann war in Frankreich ein Schüler Bernhards von Clairveaux gewesen und sein Werk war dazu bestimmt, den Kanzler an seine Pflichten gegen die Kirche zu mahnen, wozu denn zahlreiche Erzählungen dienen sollten. Eine Nachahmung dieses Buches ist das Werk des Walther Map De nugis Curialium, welches, dem fanatischen und habsüchtigen Klerus,[735] namentlich aber dem Cistercienser-Orden Feind, mit Märchen und Geschichten, Sittenschilderungen und moralischen Betrachtungen gegen sie ankämpft. An demselben englisch-französischen Hofe lebte Gervasius von Tilbury, auch am Hofe des deutschen Königs Otto IV. eine Zeit lang im Amt, der für König Heinrich den jüngeren ein Liber facetiarum schrieb. Auf deutschem Boden erwuchs der Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach, eines Kölners im Cistercienser-Kloster Heisterbach unweit Bonn, der eine ausserordentliche Fülle namentlich geistlicher Geschichten, Wunder, Visionen zusammenschrieb. Siehe über die genannte Gruppe Wattenbach, Geschichtsquellen, Abschnitt V, § 24.

Anderer Art sind die seit dem 13. Jahrhundert auftretenden deutschen Novellen; sie sind vorläufig, im Anschluss an die epischhöfische Dichtung, in Reimpaaren geschrieben, ihr Stoff entweder erfunden oder dem in den unteren Volksschichten längst vorhandenen gangbaren Erzählungsstoff entnommen, wobei man im ganzen leicht, im einzelnen oft schwer, solche Geschichten unterscheiden kann, die von Anfang an deutschem Boden entstammen, und solche, die aus der Fremde kommen; eine reiche Strömung von Erzählungsstoff wälzt sich im Mittelalter aus Indien, namentlich den buddhistischen Ländern, über Arabien und Persien in den Occident, so zwar, dass er auf seinen Wanderungen und Etappen mit Leichtigkeit der Denk- und Erzählungsweise desjenigen Volkes sich anschmiegt, das ihm bei sich das Bürgerrecht schenkt. Standen die obengenannten Novellen den eigentlichen Geschichtswerken entgegen, so stellen sich die deutschen Novellen in Gegensatz zu den höfischen Epopöien; hatten diese vom Hörer eine willige Hingebung, liebevolle Vertiefung, einen idealen Aufschwung des Geistes verlangt, so wollte man sich jetzt nur noch reizenden, schnell wechselnden Unterhaltungsstoff gefallen lassen, spannende Neuigkeiten, Novellen. Der Gegensatz zur höfischen Dichtung liegt ferner darin, dass das Gesetz der höfischen Zucht jetzt zum Gegenstande des Witzes und Spottes wird. »Diese Komik ergreift nun schonungslos alle Kreise und Verhältnisse des Lebens, nichts ist ihr heilig, unantastbar. Im Königssaale wie in der Bauernhütte ist sie zu Hause, auch die Klostermauer und selbst die Kirchenthüre schliessen sie nicht aus, besonders gern aber reibt sie sich an faulen ehelichen und geschlechtlichen Verhältnissen im allgemeinen: die Ehemänner scheinen nur da zu sein, um von ihren Weibern und deren Liebhabern, nicht selten Pfaffen, betrogen zu werden, und die Töchter wetteifern mit einer Lüsternheit und Koketterie, die gern die Maske der Naivität vermummt, galanten Rittern oder fahrenden Schülern, jungen Geistlichen, wo nicht gar einem verstellten Thoren, von dem Verschwiegenheit zu hoffen, ihre Gunst zu erweisen. Roheit und Frivolität sind die Extreme, in die diese Komik gern verläuft, und wenn die ritterliche Dichtung mit dem Weibe einen lächerlichen Götzendienst getrieben, so erfreut man sich jetzt daran, zu hören, wie ein roher Mann seine widerspenstige Gattin und Schwieger mit sehr handgreiflichen Argumenten zum Gehorsam bekehrt«. Lambel, Erzählungen und Schwänke, 1872. Einleitung VIII. Eine besondere Rolle spielt hier der Kampf, den der niedere Klerus und die unteren Stände gegen die herrschende Geistlichkeit und den Adel begannen. Durch den Druck ihrer Oberhirten sahen sie sich gezwungen, mit List und Betrug ihr Leben zu fristen, und gegenüber der Macht, der überlegenen[736] Freiheit und Gelehrsamkeit ihrer Gegner und Unterdrücker nahmen sie unter der Maske der Einfalt und Naivität zur List und zum angeborenen Mutterwitze, zum Narrentum ihre Zuflucht, wobei mit Vorliebe eine grobe Derbheit hervorgekehrt wurde.

Es lässt sich dem Gesagten gemäss erwarten, dass die Dichter, die hier in Betracht kommen, nicht dem adeligen Stand angehören werden: es sind vielmehr Bürgerliche, Handwerker, fahrende Sänger und Spielleute. Von vielen der erhaltenen Novellen kennt man den Dichter überhaupt nicht.

Folgende Gruppen lassen sich unterscheiden:

1. Schwänkesammlungen, deren Held ein Mitglied des niedrigen Klerus ist, welcher sich durch seine derben Spässe an dem vornehmen und hochmütigen Gebahren seiner Oberen rächt; dahin gehören der Pfaffe Amîs von Stricker, der Pfaffe vom Kalenberg von Philipp Frankfurter zu Wien.

2. Aus dem Orient herrührende Novellensammlungen, welche teils durch mündlichen Verkehr der Kreuzfahrer, der Araber und Mongolen, teils durch jüdische und arabische Schriften nach Europa kamen. Auf Grund dieser entstanden zunächst lateinische Übersetzungen, aus denen die Stoffe dann in die Volkssprachen übergingen. Die Hauptquelle ist die indische Sammlung Pantschatantra, die Benfey übersetzt und kommentiert hat, Leipzig 1859. Die berühmtesten lateinischen Sammlungen sind die Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi, das Buch von den sieben weisen Meistern, die Gesta Romanorum (siehe überall die besonderen Artikel), und die obgenannten Liber facetiarum des Gervasius und Dialogus miraculorum des Cäsarius von Heisterbach.

3. Aus solchen lateinischen Büchern, zumeist aber aus den seit der Mitte des 12. Jahrhunderts an den französischen Höfen beliebten fabliaux schöpften nun deutsche Dichter die Vorbilder zahlreicher, oft leichtsinniger und schlüpfriger Erzählungen, die ihrer Entstehung nach meist ins 13. und den Anfang des 14. Jahrhunderts gehören. Schon früh wurden grössere Sammlungen solcher gereimter Novellen angelegt; gedruckt sind u.a. der Kolaczaer Kodex altdeutscher Gedichte, von Mailath und Köffinger, Pesth, 1807; Bd. 1–3 von Lassbergs Liedersaal, 1820–1825; Von der Hagens Gesamtabenteuer 1850, und Lambel, Erzählungen und Schwänke 1872. Indem wir auf diese Sammlungen selbst verweisen, stellen wir hier blos die Titel einiger Erzählungen zusammen, da sich schon daraus der Charakter dieser Stücke einigermassen erraten lässt: Wiener Meerfahrt, das Häslein, der Fischer und der Pfaffe, die alte Mutter und Kaiser Friederich, Rittertreue, die Königin von Frankreich und der ungetreue Marschall, die Heidin, der Kozze, der Weinschwelg, der Weinschlund, der Schüler zu Paris, Frauenturnei, der Weltheilige, Aristoteles und Fillis, Alten Weibes List, die halbe Birn, der münch der ein kint truoc, der entlaufene Hasenbraten, von den ledigen wîben, der Ritter unterm Zuber, die Fischreusen, daz maere von dem sperwaere, das Gänslein, das Schneekind, die Beichte, die Meierin mit der Geiss, das Schretel und der Wasserbär; zu den merkwürdigsten gehört Meier Helmbrecht, gegen 1250 von Wernher dem Gartenaere gedichtet.

Erst dem Ende des 14. und dem 15. Jahrhundert gehören an: Der Ritter von Staufenberg, Schwänke des Hans Folz, Barbierers zu Nürnberg um 1480, von dem man auch Fastnachtspiele hat, Metzen Hochzeit, Pyramus und Thisbe, der König im Bade von Hans Rosenblut, der ebenfalls zugleich Fastnachtspiele[737] verfasste, der Brennenberger, das Meerwunder, Virgilius im Korbe. Der letzte Ausläufer dieser Dichtungen ist Hans Sachs mit seinen Schwänken, mit ihm geht dieser Litteraturzweig auf deutschem Boden aus.

4. Novellen oder Schwänke in Prosa nehmen ihren Hauptausgangspunkt aus Italien, wo sich unter der Herrschaft der Renaissance und namentlich hervorgerufen und unterstützt vom Charakter der italienischen Gesellschaft die Prosa-Novelle rasch zu einer höchst beliebten Litteraturgattung erhebt. Die Stoffe sind zum Teil die alten, zu denen Erfindung und Erfahrung immer wieder Neues hinzuthut. Ihre Wirksamkeit beruht einesteils auf dem Spott und Witz, in welchem sich die gesteigerte Individualität dieser Periode mit Vorliebe Luft macht. »Es sind meist keine eigentlichen Geschichten, sondern Antworten, die unter gewissen Umständen gegeben werden, horrible Naivitäten, womit sich Halbnarren, Hofnarren, Schalke, liederliche Weiber ausreden; das Komische liegt dann in dem schreienden Gegensatz dieser wahren oder scheinbaren Naivität zu den Verhältnissen der Welt und zur gewöhnlichen Moralität; die Dinge stehen auf dem Kopf. Alle Mittel der Darstellung werden zu Hilfe genommen, auch z.B. schon die Nachahmung bestimmter oberitalienischer Dialekte. Oft tritt an die Stelle des Witzes die bare, freche Insolenz, der plumpe Betrug, die Blasphemie und die Unfläterei.« Burckhardt, Renaissance, Abschnitt II. Die andere Wirkung stützt sich auf die schöne Form, dergestalt, dass Boccaccio mit seinen Novellen sich den Namen eines Begründers der italienischen schönen Prosa zu erwerben vermochte; es hängt das damit zusammen, dass auch auf diesem Gebiete klassische Muster vorlagen, namentlich sogenannte Apophthegmata des Plutarch u. A. Die älteste Novellensammlung der Italiener sind die Cento novelle antiche, die noch zu Ende des 13. Jahrhunderts entstanden sind, die einflussreichste der Dekamerone und das lateinisch verfasste Buch von den berühmten Frauen, de claris mulieribus des Boccaccio. Auf deutschem Boden hat es diese Gattung nie zu einer klassisch-schönen Form gebracht, schon darum nicht, weil die deutsche Prosa des 16. Jahrhunderts eigentliche schöne Formen kaum kannte; ihr standen Kraft, Wahrheit und Natur höher als Schönheit. Es war daher hier mehr der witzige Inhalt, der sich in der Novelle geltend machte, mit Ausnahme lateinisch geschriebener Sammlungen, unter denen diejenige des Erasmus das meiste Ansehen genoss. Im einzelnen lassen sich noch verschiedene Gruppen unterscheiden: Übersetzungen und Bearbeitungen älterer Sammlungen, wie der Gesta Romanorum und der sieben weisen Meister, dann Übersetzungen der italienischen Novellen, des Dekamerone, zuerst Ulm 1472, und nachher oft wiederholt, des Buches von den berühmten Frauen, zuerst Augsburg 1471 von Heinrich Steinhöwel; sodann, für Gelehrte und Studenten bestimmt, die Facetien (siehe den besondern Artikel), welche wieder als Geschwenk verdeutscht wurden, und endlich eine Anzahl volkstümlich deutscher, meist sehr beliebter Schwanksammlungen, die von allen den genannten Gruppen und Quellen abhängig, gewöhnlich ein besonderes Lesepublikum im Auge hatten: An der Spitze steht das Novellenbuch des Johannes Pauli, Schimpf und Ernst, d.h. Scherz und Ernst; der Verfasser, dessen ursprünglicher Name Paul Pfedersheimer lautet, war ursprünglich Jude, liess sich taufen, trat in den Barfüsserorden, der ihn 1518 zum Lesemeister im Franziskanerkloster zu Schlettstadt, 1518 zu Than machte, wo er um 1530 starb. Seine Sammlung, zuerst 1522 zu Strassburg gedruckt,[738] enthält etwa 700 Schwänke; Ausgabe von Österley, Bd. 85 der Bibliothek des lit. Vereins in Stuttgart. Von Jörg Wickram aus Kolmar im Elsass stammt das Rollwagenbüchlein. Ein neuws, vorunerhörtes Büchlein, darin vil guoter schwenk und historien begriffen werden, so man in schiffen und auf den rollwegen (Marktwagen, Omnibus), dessgleichen in scherheuseren und badstuben, zuo langweiligen zeiten erzellen mag, die schweren melancolischen gemüter damit zur ermüntern, vor aller menigklich, jungen und alten, sunder allen anstoss zuo lesen und zuo hören, allen kaufleuten, so die messen hin und wieder brauchen, zur einer kurzweil an tag bracht und zuosamen gelesen durch Jörg Wickrammen, stattschreiber zuo Burckhaim. Anno 1555. Neu herausgegeben und mit Erläuterungen versehen von Heinrich Kurz, Leipzig 1868. – Die Gartengesellschaft des Jacob Frei, Stadtschreiber z. Maursmünster in Elsass: Ein new hüpsches und schimpflichs Büchlein, genannt die Gartengesellschaft, darin vil frölichs gesprächs, schimpfreden, speiwerk und sonst kurzweilig bossen von historien und fabulen gefunden werden, wie sie zuo zeiten die selben in den schönen gerten, bei den külen brunnen, auf den grünen wisen, bei der edlen musik, auch andern ehrlichen Gesellschaften, (die schweren verdrossnen gemüter wieder zuo recitieren und aufzuoheben) frölich und freundlich geredt und auf die ban werden gebracht. Erste Ausgabe 1556. – Weg-Kürtzer des Martin Montanus von Strassburg, ein sehr schön lustig und aussdermassen kurzweilig Büchlein, darin vil schöne lustiger und kurzweiliger historien, in gärten, zechen und dem Feld sehr lustig zu lesen. – Michael Lindener, Katzipori, darin newe mugken, seltzame grillen, unerhörte tauben, visierliche zotten verfasst und begriffen sein, durch einen guoten companen, allen guoten schluckern zuo gefallen, zusammen getragen 1558. – Nachtbüchlein, zu nacht nach dem allen oder auf wegen und strassen zu lesen, von Valentin Schumann, schriftpresser, der geburt von Leiptzig 1559. – Wendunmut von Hans Wilhelm Kirchhof, erste Ausgabe Frankfurt a/M. 1563; neue Ausgabe von Österley in Bd. 95 bis 99 der Bibliothek des litt. Vereines in Stuttgart. Vgl. die Litt. Gesch. von Wackernagel und Goedecke.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 735-739.
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