Mutationstheorie

[330] Mutationstheorie. Unter Mutationen versteht man plötzliche, nicht durch Übergänge vermittelte Abänderungen einer Tier- oder Pflanzenart in ihrem ganzen Aussehen und oft in fast allen ihren Teilen. Solche Mutationen studierte de Vries bei einigen Pflanzenarten, namentlich bei einer Nachtkerze (Oenothera lamarckiana), bei der er während mehrjähriger, mit Tausenden von Exemplaren vorgenommenen Kulturversuchen sieben solcher charakteristischer, bei reiner Fortzüchtung in allen Teilen streng erblicher neuer Formen erhielt. Diese strenge Erblichkeit, die wenigstens für einige dieser Arten auch durch ihr Vorkommen im Freien bewiesen wird, unterscheidet die Mutationen von den Kulturrassen der Haustiere und Kulturpflanzen, die, freier Kreuzung überlassen, wieder in die Stammform zurückschlagen. Die Mutationen unterscheiden sich von den Varietäten dadurch, daß letztere in der Regel nur in einem Merkmal von der Stammform abweichen, erstere aber in ihrer ganzen Erscheinung. Die M. von de Vries behauptet nun, daß nur solche Mutationen, nicht aber die gewöhnlichen, kleinen Variationen zur Bildung neuer Arten führen; daß jede Art nur zu bestimmten Zeiten (Mutationsperioden) zur Erzeugung von Mutationen neige (wie gegenwärtig z. B. die genannte Oenothera-Art); daß zwei Mutationsperioden durch eine lange, vielleicht Jahrtausende umfassende Zeit konstanter Fortentwickelung getrennt seien, daß aber wahrscheinlich jede Gruppe verwandter Arten, Gattungen, Familien etc. ursprünglich einer solcher Mutation ihre Entstehung verdanke. Der natürlichen Auslese falle dabei nur eine sekundäre Rolle zu, indem sie nicht erhaltungsfähige Mutationen vernichtet. – Schon früher war die Bezeichnung Mutationen von verschiedenen Paläontologen (Waagen, Scott, Neumayr) gebraucht worden, um solche Abänderungen, die sich als erblich erwiesen, von den nicht erblichen zu unterscheiden. Vgl. Darwinismus, besonders S. 536.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 330.
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