Winkel [1]

[672] Winkel (Angulus), in der Geometrie die Neigung, die zwei von einem Punkte (dem Scheitel) ausgehende gerade Linien (die Schenkel) gegeneinander haben. Man denkt sich den W. dadurch entstanden, daß sich der eine Schenkel um den Scheitel herum immer in demselben Sinne so lange dreht, bis er mit dem andern zusammenfällt, und nennt den Teil der Ebene, den der sich drehende Schenkel überstreicht, die Öffnung des Winkels.

Fig. 1.
Fig. 1.

Um den W. zu bezeichnen, nimmt man auf jedem der beiden Schenkel einen Punkt an (in Fig. 1 A und B); ist dann O der Scheitel, so heißt der W. A O B, und man braucht die Öffnung nicht besonders anzugeben, wenn man ein für allemal festsetzt, daß der zuerst genannte Schenkel A O der erste sein soll, und daß die Winkelöffnung erhalten wird, wenn man den ersten Schenkel um den Scheitel herum entgegengesetzt dem Uhrzeigersinne bis zum zweiten dreht. In diesem Sinne hat der W. A O B seine Öffnung nach rechts gerichtet, der W. B O A nach links. Um die Größe zweier W. A O B und A' O' B' (Fig. 1) zu vergleichen, beschreibt man um die Scheitel beider mit beliebigen, aber gleichen Halbmessern O A = O' A' Kreisbögen, die jedesmal vom ersten zum zweiten Schenkel reichen und in den Öffnungen der W. liegen. Der W. A O B verhält sich dann zu dem W. A' O' B' so wie der Kreisbogen A B zu dem Kreisbogen A' B', denn das Verhältnis dieser beiden Kreisbögen ist, wie man leicht beweisen kann, von der Größe des Halbmessers O A = O' A' unabhängig. Ein W., dessen zugehöriger Kreisbogen gerade ein Viertel des Kreisumfangs ist, heißt rechter W. (ein Rechter, Fig. 2).

Fig. 2–4. Konkave Winkel. Fig. 5. Konvexer Winkel.
Fig. 2–4. Konkave Winkel. Fig. 5. Konvexer Winkel.

Ein W., von dessen Schenkeln jeder die Verlängerung des andern ist, heißt gestreckt und ist gleich zwei Rechten. Spitz heißt ein W., wenn er kleiner ist als ein rechter (Fig. 3), stumpf, wenn er größer ist als ein rechter, aber kleiner als zwei rechte (Fig. 4), überstumpf, wenn er größer ist als zwei rechte (Fig. 5). Die spitzen und die stumpfen W. bezeichnet man im Gegensatz zum rechten W. als schiefe W. und zuweilen auch, den rechten W. mit eingeschlossen, als hohle (konkave) W., während die überstumpfen erhabene (konvexe) W. genannt werden. Bei allen praktischen Rechnungen denkt man sich den rechten W. in 90 gleiche Teile (Grade) geteilt (ein rechter = 90°), den Grad (1°) wieder in 60 gleichgroße (Bogen-) Minuten (1° = 60') zu je 60 (Bogen-) Sekunden (1' = 60''), s. Grad. In der höhern Mathematik dagegen setzt man den W. A O B gleich 1, dessen zugehöriger Kreisbogen A B gerade so lang ist wie der Halbmesser O A. Jeder W. wird dann durch eine Zahl ausgedrückt, der W. von zwei Rechten oder 180° insbes. durch die Zahl π = 3,1415927, ein Rechter = 90° durch 1/2 π = 1,5707968; 1° durch 0,0174588; 1 durch 0,0002909; 1'' durch 0,0000048, während der W. 1 gerade 57°17' 44,8'' = 206,264,8'' enthält. Neuerdings fängt man auch wieder an, die während der ersten französischen Revolution in Frankreich eingeführte Teilung des rechten Winkels in 100 Grade anzuwenden, wobei dann die Teile eines Grades durch Dezimalbrüche ausgedrückt werden. Um einen W. zu halbieren, wählt man auf dessen Schenkeln zwei Punkte A und B in gleichen Abständen vom Scheitel O (Fig. 6), beschreibt um A und B mit gleicher Zirkelöffnung Kreisbögen und verbindet den Schnittpunkt C dieser Kreisbögen mit O durch die Gerade O C, die den W. A O B halbiert. Die Teilung eines Winkels in drei gleiche Teile (Trisektion des Winkels) ist dagegen nur in einigen wenigen besondern Fällen durch Zirkel und Lineal ausführbar. Der W. zweier nicht in einer Ebene liegender, einander nicht schneidender (windschiefer) Geraden ist gleich dem W. zweier von einem Punkt ausgehender Parallelen zu diesen zwei Geraden.

Fig. 6. Halbierung des Winkels.
Fig. 6. Halbierung des Winkels.

Der W. zweier durch einen Punkt gehender krummer Linien ist gleich dem W., den die in diesem Punkte an die krummen Linien gezogenen Tangenten bilden. Den W. zweier Ebenen setzt man gleich dem W. der beiden Geraden, die in einem beliebigen Punkte der Schnittlinie beider Ebenen senkrecht zu dieser so gezogen sind, daß die eine in der einen, die andre in der andern Ebene liegt. Der W. einer Geraden und einer Ebene ist gleich dem W. zwischen der Geraden und deren senkrechter Projektion (s. d.) auf die Ebene. Über Zentri- und Peripheriewinkel s. Kreis, S. 625; über korrespondierende W., Wechselwinkel etc. s. Parallel. Ein körperlicher W. (Körperwinkel, Keil) wird gebildet von drei oder mehr durch einen Punkt gehenden Ebenen; als Mast dieses Winkels kann man das zwischen diesen Ebenen liegende Stück einer Kugelfläche betrachten, die jenen Punkt zum Mittelpunkt hat. Bei Polygonen (namentlich in der Kriegsbaukunst) unterscheidet man ausgehende (ausspringende) und eingehende (einspringende) W., je nachdem die Schenkel nach der Innen- oder der Außenseite des Polygons auseinander gehen. Außerdem unterscheidet man bei einem Polygon innere oder Innenwinkel (Polygonwinkel), die auf der Innenseite von je zwei Seiten gebildet werden, und Außenwinkel (s. d.). Das mathematische Zeichen für W. ist ∠ oder ∡ (s. Mathematische Zeichen).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 672.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Der Teufel kommt auf die Erde weil die Hölle geputzt wird, er kauft junge Frauen, stiftet junge Männer zum Mord an und fällt auf eine mit Kondomen als Köder gefüllte Falle rein. Grabbes von ihm selbst als Gegenstück zu seinem nihilistischen Herzog von Gothland empfundenes Lustspiel widersetzt sich jeder konventionellen Schemeneinteilung. Es ist rüpelhafte Groteske, drastische Satire und komischer Scherz gleichermaßen.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon