Der Kreis der Weichthiere

[183] Der Markt des Lebens stattet jeden, auch für die nähere Befreundung mit den Weichthieren, mit einer kleinen Summe von Vorkenntnissen und Erfahrungen aus. Von einer Schnecke, einer Muschel hat jedermann den Eindruck bekommen, daß sie eben Weichthiere seien, und daß diese Bezeichnung in durchgreifenden Abweichungen von den Wirbel- und Gliederthieren beruhe. In der Annahme der Zusammengehörigkeit von Schnecke und Muschel lassen wir uns nicht stören durch die Bemerkung, daß die eine einen mit Fühlhörnern und Augen ausgestatteten Kopf besitzt, während ein solcher Körperabschnitt bei der anderen vergeblich gesucht wird; die Anwesenheit eines Gehäuses bei der Weinbergsschnecke hindert auch den ungeschulten Betrachter durchaus nicht, in der nackten Wegeschnecke ihre nächste Verwandte zu erblicken. Und wenn sich die Anschauungen mit dem Besuche des Meeresgestades verhundertfachen, die Märkte der Seestädte neue und neue Formen zuführen, werden auch die fremdartigeren Weichthiergestalten von dem prüfenden und vergleichenden Auge mit den Formen des Wirbelthier- und Gliederthier-Reiches, die Würmer nicht ausgeschlossen, nicht verwechselt werden.

An vielen Weichthieren ist freilich Kopf und Leib zu unterscheiden, aber der ganze Körper bleibt, im Vergleiche zu den uns schon näher bekannten Thieren, klumpenhafter und zeigt nicht im entferntesten jene Gliederung oder auch nur die Anlage dazu, welche das Gliederthier im Innersten beherrscht und auch dem Wirbelthiere durch die Sonderung seiner Wirbelsäule und der gelenkigen Gliedmaßen sein eigenthümliches Gepräge verleiht. Die Entschiedenheit der Gestalt, welche beim Wirbelthiere vom inneren Knochenskelette, beim Gliederthier von den erhärteten Hautbedeckungen abhängt, mangelt dem Weichthiere. Nur die einfacheren Würmer treten hier wenigstens als oberflächliche Vermittler dazwischen. Aber die Schale, die Gehäuse? wird man fragen. Das sind eben bloße Gehäuse, zwar ausgeschieden und producirt vom Körper, aber so lose mit ihm zusammenhängend, daß sie einen Vergleich mit einem inneren oder äußeren Skelette nicht aushalten. Das letztere ist in vollster Bedeutung des Wortes ein Theil des Organismus. Die Knochen wachsen und ernähren sich; der Käfer kann nicht aus seinem Hautskelette herausgeschält werden; wenn der Panzer des Krebses nicht mehr lebendig mit dem Thiere verbunden ist, fällt er ab, um einem neuen Platz zu machen. Dieses innige Verhältnis findet zwischen dem Weichthiere und seinem Gehäuse nicht statt; letzteres ist ein Ausscheidungspro dukt, das allerdings durch Auflagerung neuer Schichten verdickt, durch Anfügung an den freien Rändern vergrößert und erweitert, auch, wenn es beschädigt ist, nothdürftig ausgeflickt werden kann, aber nur an einer oder einigen beschränkten Stellen mit dem Thiere wirklich zusammenhängt und, weil es an dem das Leben ausmachenden Stoffwechsel [183] nicht theilnimmt, ein todtes ist. Eine Schnecke kann man aus dem Gehäuse herausnehmen, indem man nur einen kleinen Muskel, der sie damit verbindet, zu durchschneiden hat, ein Eingriff, der an sich das Leben des Thieres durchaus nicht gefährdet. Nur in den Hautbedeckungen mancher Weichthiere kommen Absonderungen horniger und kalkiger Platten vor, die ihrer Lage wegen den Eindruck innerer Skelettstücke und Knochen machen, im wesentlichen aber mit jenen äußeren Schalenbildungen übereinstimmen.

So haben wir denn, um über den allgemeinen Charakter der Weichthiere ins Reine zu kommen, uns an die zu halten, welche keine Gehäuse besitzen, und die anderen ihrer Schalen zu entkleiden. Sie stehen dann vor uns als ungegliederte, oft sehr ungeschickt aussehende Thiere, deren in der Anlage vorhandene Symmetrie oft einer unsymmetrischen Gestalt gewichen ist. Die Haut ist schlüpfrig und weich, und ausnahmslos finden wir dieselbe in Lappen und mantelartige Falten ausgezogen, von welchen der Körper ganz oder theilweise verhüllt werden kann. Es ist nichts leichter, als sich von dieser Grundeigenthümlichkeit der Weichthiere eine Anschauung zu verschaffen. Wenn die Schnecke sich in das Gehäuse zurückzieht, bemerkt man, wie ein dicker Hautlappen sich über den verschwindenden Kopf hinweg legt: es ist ein Stück des Mantels. Schält man eine Muschel aus, so ist der Körper vollständig von jeder Seite mit einem großen häutigen Lappen bedeckt: das sind die beiden Hälften des Mantels. Alle Schalenbildung geht vom Mantel aus, besonders von seinen freien Rändern.

Wenn wir anführen, daß die am höchsten ausgebildeten Weichthiere bei einem nicht selten einen, wohl aber auch zwei und mehr, ja in riesenhaften Dimensionen sechs Meter und darüber langen Körper fast so vollendete Sinneswerkzeuge tragen, wie die höheren Wirbelthiere, und ihrer Größe entsprechende Muskelkraft entwickeln, während auch fast mikroskopische Formen darunter vorkommen, und manche sich an die Strudelwürmer anzuschließen scheinen, so wird man auch hier nicht erwarten, daß der Bau, das Leben und Vorkommen dieses Kreises im allgemeinen geschildert werden kann. Nachdem wir die Wichtigkeit der Hautbedeckungen hervorgehoben, deuten wir nur an, daß der Haupttheil des Nervensystems in einem Schlundringe besteht, mit welchem die übrigen im Körper zerstreuten Nerven und Nervenknoten zusammenhängen. Das Vorhandensein der Sinnesorgane richtet sich nach der Stufe der Ausbildung des Körpers im ganzen und nach Aufenthalt und Lebensweise. So finden sich, um nur einige Beispiele anzuführen, nur wenige Muschelthiere mit Augen; sie haben keinen Raub zu erspähen, und ihre Nahrung wird ihnen durch unausgesetzte Flimmerbewegung an den Körperflächen zugeführt. Aber alle Schnecken und vor allen die hoch organisirten raubgierigen Dintenschnecken suchen nach ihrer Nahrung, und demgemäß spiegelt sich in ihren Augen die Umgebung ab.

Sehr vollständig ist bei allen Weichthieren der Ernährungsapparat ausgebildet. Die höheren Ordnungen, nämlich alle, welche eine feste Nahrung zerkleinern, sind mit sehr auffallenden Beiß- und Raspelwerkzeugen ausgestattet, die in neuerer Zeit mit eben dem Erfolg für eine naturgemäße Systematik sich haben verwerthen lassen, wie man seit langer Zeit an der Beschaffenheit des Gebisses der Säuger ihre Lebensweise und systematische Stellung erkennt. Als starke Fresser bedürfen die Weichthiere nicht bloß eines geräumigen Darmkanales, sondern auch ein reichliches Maß der die Verdauung einleitenden und befördernden Säfte, daher wir die den Speichel und die Galle bereitenden Drüsen, Speicheldrüsen und Leber, ausnehmend entwickelt finden. Wir sehen den Blutlauf geregelt durch ein Herz, aus Kammer und einer oder zwei Vorkammern bestehend, in welches das Blut aus dem Athmungsorgan eintritt, um aus demselben in erneuertem, zur Ernährung des Organismus tauglichem Zustande dem Körper zugeführt zu werden. Auch die Athmungsorgane, meist Kiemen, sind immer ansehnlich entfaltet und bieten der Thierbeschreibung durch ihre mannigfaltige Stellung und Form viele Anhaltspunkte. Eine außerordentliche Entwickelung pflegt auch die andere, der vegetativen Seite des Lebens gehörige Organgruppe, die der Fortpflanzungswerkzeuge zu sein. Doch dies alles, und wie Zwitterformen mit getrennten [184] Geschlechtern abwechseln, wie uns dort der Generationswechsel, hier Verwandlung, hier wiederum die Entwickelung ohne Verwandlung begegnet, ferner das Verhältnis der Weichthiere zu sich und zur Welt, mag lieber die Schilderung der einzelnen Gruppen zeigen, zu der wir uns nun wenden.

Die Liebhaber von Kuriositäten und Naturprodukten haben schon seit einigen Jahrhunderten mit Vorliebe die Schneckengehäuse und Muschelschalen gesammelt und an ihrer bunten und niedlichen Formenfülle sich geweidet. Wir sind über diesen einseitigen Standpunkt weit hinaus; ohne die Freude an den schönen Muschelsammlungen zu verdammen, dürfen wir uns im Grunde von ihnen ebensowenig befriedigen lassen, wie etwa von einer Sammlung von Krallen oder Hufen. Ja sie erläutern uns das Leben und die Verrichtung des Thieres viel weniger, als die untergeordneten Theile, die uns in die Feder kamen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 183-186.
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