Fein

[376] Fein. (Schöne Künste)

Man nennt im eigentlichen Verstand dasjenige fein, was in seiner Art zwar bestimmte und klare, aber nicht starke Eindrüke auf die Sinnen macht, so daß schon scharfe Sinnen zu bestimmter Empfindung desselben erfodert werden, wie ein feiner Ton, ein feiner Geruch, ein feiner Faden. Im figürlichen Sinn nennt man also dasjenige Fein, was eine etwas scharfe Vorstellungskraft erfodert, um den gehörigen Eindruk zu machen; was denen, die nicht genau aufmerken, leicht unbemerkt bleibt. So ist ein feiner Gedanken der, dessen Richtigkeit nur durch einen merklichen Grad der Scharfsinnigkeit entdekt wird. Das Feine ist dem Groben entgegen gesetzt, das sich stark fühlen läßt, und auch gröbern Sinnen nicht entgeht.

Es liegt in der Natur der Vorstellungskräfte, daß diejenigen, die eine große Fertigkeit in jeder Art der Vorstellungen erlangt haben, von dem Feinen angenehmer gerührt werden, als von dem zu merklichen. So wol für die äußern, als für die innern Sinnen, werden rohe Menschen von solchen Dingen angenehm gerührt, die geübtern schon zu gemein und nicht fein genug sind. Der Künstler also, der für geübte und scharfe Kenner schreibt, muß das Feinere seiner Kunst besitzen, und überhaupt einen feinen Geschmak haben, so wie der, der einem scharfsinnigen Mann schmeicheln will, ihn nicht grob, sondern auf eine verdekte Art loben muß.

Also ist das Feine eine ästhetische Eigenschaft, wodurch einige Gedanken oder Vorstellungen ihre rechte Annehmlichkeit erhalten. Das Feine liegt aber entweder in der Vorstellung selbst, oder in der Art, wie sie vorgetragen wird, nämlich in der Wendung und in dem Ausdruk. Ein Gedanken ist Fein, wenn seine Kraft von Begriffen herkommt, die nur scharfsinnige fassen. Zum Beyspiel kann das Lob dienen, welches Euripides aus dem Munde des Adrastus dem Eteokles beylegt: Er liebte das Vaterland – die Bösen haßte er, nicht den Staat; denn er machte einen Unterschied zwischen der Republik, und denen, die sie durch eine üble Verwaltung der Sachen verhaßt machen.1 Zum Beyspiel einer sehr feinen Wendung des Lobes kann das Compliment dienen, das Horaz dem Dichter Alcäus macht. Mitten im Schreken, den der römische Dichter aus augenscheinlicher Lebensgefahr gehabt, und da er schon einen gewissen Tod erwartet, sich auch schon das dunkele Reich der Schatten lebhaft vorstellt, sieht er dort nur vorzüglich den Alcäus, und bemerkt fürnehmlich die Wunder seiner Lieder2. Durch den Ausdruk kann ein gemeiner Gedanken Fein werden, wenn ihm etwas, das auf eine feine Art reizet, beygemischt wird. Davon kann folgendes, aus dem eben angeführten Trauerspiel des Euripides, zum Beyspiel dienen3. Die argivischen Matronen bitten die Aethra ihren Sohn zu bewegen, ihnen die Leichnahme ihrer erschlagenen Söhne auszuliefern. Auch du, sagen sie, hast ehedem aus den lieblichen Umarmungen deines Gemahls einen Sohn gebohren. Wie viel feiner ist dieses, als das gemeine, auch du bist Mutter. Der angeführte Dichter ist vorzüglich reich an Gedanken, die durch den Ausdruk Fein werden. Wie Fein ist nicht folgendes, ebenfalls durch Einmischung angenehmer, und an sich feiner Nebenbegriffe. Er vergönnte seiner Tochter aus den Freyern den zu wählen, auf den die lieblichen Eingebungen der Venus ihre Neigung lenken würden.4 Dadurch giebt der Dichter auf eine angenehme Weise zu verstehen, daß die Wahl eines Gatten durch ein gewisses nicht zu bestimmendes Gefühl, das aus Wollust entspringt, geleitet werde.

Zum feinen Ausdruk gehören überhaupt die Wörter, die entweder die Hauptbegriffe selbst, oder einige[376] Nebenbegriffe, durch scharfsinnige Bilder, oder durch andre nur geübten Kennern recht fühlbare Umwege mehr merken lassen, als geradezu anzeigen. Was durch fast unmerkliche Anspielungen, durch ganz leichte flüchtige Zeichen, aber doch sehr richtig und bestimmt angezeiget wird, gehört hiezu.

Es giebt gemeinen Vorstellungen ein reizendes Wesen, und eine Neuheit, wodurch sie sehr angenehm werden, und ist deßwegen da zu brauchen, wo die Sachen selbst wenig reizendes haben. Personen von feinem Witz können auch die gemeinsten Sachen dadurch intressant machen. Daher ist der eigentliche Sitz des Feinen in den Werken des Geschmaks in den Materien und auf den Stellen, wo die Vorstellungskraft, wegen des geringen Gewichts der Sachen selbst, sinken könnte; besonders in dramatischen Stüken da, wo die Handlung etwas ruhig fortgeht.

Wo aber die Sachen selbst sehr wichtig, pathetisch, oder sehr ernsthaft sind, da ist das Feine weniger nöthig, und würde auch unnatürlich seyn, weil eine ernsthafte, oder empfindungsvolle Gemüthsfaßung ihm entgegen ist. Das Große, das Pathetische, das Erhabene, kann selten mit dem Feinen verbunden seyn. Wer dabey fein seyn wollte, der würde verrathen, daß er das Starke und Große nicht mit voller Kraft fühlt.

Ueberhaupt gehört das Feine unter die Würze der Gedanken, wovon man leicht einen schädlichen Aufwand machen kann. Personen, die für jeden Gedanken eine feine Wendung und einen feinen Ausdruk suchen, fallen in das Gezierte, und eine zu große Begierde sich immer fein auszudrüken, verleitet auch auf das Spitzfündige, welches eigentlich das falsche Feine ist.

1Euripid. in dem Trauersp. ἱκετιδες.
2Hor. Lib. II. od. 13.
3vs. 55. 56.
4Iphig. in Aul. vs. 68. 69.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 376-377.
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