Flüchtig

[393] Flüchtig. (Schöne Künste)

Das Flüchtige hat in allen Werken der Kunst, fürnehmlich aber in den zeichnenden Künsten statt, und besteht darin, daß die Gegenstände nach dem, was ihnen wesentlich zugehört, mehr angezeiget, als völlig und nach allen Theilen ausgeführt werden. Eine flüchtige Zeichnung ist die, welche mit wenig kräftigen Strichen die Hauptsachen so angiebet, daß ein Kenner sogleich daraus das Ganze sich bestimmt vorstellen kann; ein flüchtiger Pinsel ist der, der nur die Hauptfarben, so wol im Hellen, als im Dunkeln durch wenig Hauptzüge so aufgetragen hat, daß das Wesentliche der Haltung und Harmonie daraus schon empfunden wird. Die flüchtige Behandlung schikt sich zur Anlegung eines Werks, da der Künstler, wenn er in vollem Feuer der Einbildungskraft ist, schnell den Entwurf macht, um vorerst nur von dem Ganzen zu urtheilen. Es ist ein großer Vortheil, wenn man sich angewöhnt hat, ein Werk flüchtig anzulegen; denn dadurch kann man sogleich alle Hauptsachen, die bisweilen nur von einem einzigen glüklichen Augenblik abhängen, festsetzen. Der Künstler, der nie flüchtig arbeiten kann, wird manches Gute, das nur wie ein schnell vorübergehender Sonnenblik kömmt und wieder vergeht, verlieren.

Hernach müssen auch ganze Werke etwas flüchtig bearbeitet werden. Nämlich diejenigen, bey denen es würklich blos auf einige Hauptsachen ankömmt, wie in den Gemählden und Werken der bildenden Künste, die sehr weit aus dem Gesichte kommen, ingleichem in den Werken, wo nur wenige Hauptgedanken zur Absicht des ganzen Werks hinlänglich [393] sind. Man kann hiervon das deutlichste Beyspiel aus der Musik nehmen. Im Recitativ sind die Noten, die der recitirenden Stimme vorgeschrieben sind, die Hauptsache; der begleitende Baß ist blos da, den Ton, darin gesprochen wird, fühlen zu lassen, und das Gehör zu den verschiedenen Modulationen desselben gleichsam zu stimmen: mehr soll und muß man von Begleitung nicht hören. Also muß dabey der begleitende Baß nur flüchtig angeschlagen werden, weil es hier gar nicht um begleitende oder ausfüllende Harmonie zu thun ist, die da vielmehr schädlich wäre.

Es ist aber leicht zu sehen, daß das Flüchtige gerade die sicherste Hand, oder die genaueste Richtigkeit erfodere. Denn weil da nichts, als das Wesentlichste der Vorstellung ausgedrükt wird, so ist auch jeder dabey vorkommende Fehler wesentlich. Also können nur große Meister in dem Flüchtigen sicher seyn.

Da das Flüchtige überhaupt dem Fleißigen entgegen gesezt ist, wovon in seinem Artikel gesprochen wird, so kann das, was dort angemerkt worden ist, auch hier angewendet werden.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 393-394.
Lizenz:
Faksimiles:
393 | 394
Kategorien: