Gesang

[459] Gesang.

Es ist nichts leichters, als den Unterschied zwischen Gesang und Rede zu fühlen; gleichwol sehr schweer ihn zu beschreiben. Beyde sind eine Folge verschiedener Töne, die sich so wol durch Höhe und Tiefe, als durch ihre besondere Bildung von einander unterscheiden. [459] Doch scheinet es, daß die Töne, die den Gesang ausmachen, sich durch etwas Anhaltendes und Nachschallendes von den Tönen der Rede unterscheiden. Diese werden durch einen schnellen Stoß gleichsam aus der Kehle heraus geworfen; jene durch einen anhaltenden Druk heraus gezogen. Diese prägen dem Gehör eine bestimmtere Empfindung von ihre Höhe, ihrer Bildung und ihrem Verhältnis unter einander ein, als jene., Da man aber den Unterschied zwischen Gesang und Rede klar genug fühlet, so verliert die Musik nichts dadurch, daß man ihn nicht deutlich entwikeln kann.

Der Gesang ist dem Menschen so wenig natürlich als die Rede: beyde sind Erfindungen des Genies, jene durch das Bedürfniß, diese vermuthlich durch Empfindungen, veranlaset. Es ist sehr schweer die verschiedenen Schritte anzugeben, die das Genie hat thun müssen, um diese Erfindungen zu Stande zu bringen. Ganz unwahrscheinlich ist es, daß der Mensch durch Nachahmung der singenden Vögel auf den Gesang gekommen sey. Die einzeln Töne, woraus der Gesang gebildet ist, sind Aeusserungen lebhafter Empfindungen; denn der Mensch, der Vergnügen, Schmerz oder Traurigkeit durch Töne äussert, dergleichen die Empfindung, auch wider seinen Willen, von ihm erpreßt, läßt nicht Töne der Rede, sondern des Gesanges hören. Also sind die Elemente des Gesanges nicht so wol eine Erfindung der Menschen, als der Natur selbst. Wir werden Kürze halber diese, von der Empfindung dem Menschen gleichsam ausgepreßte Töne, leidenschaftliche Töne nennen. Die Töne der Rede sind zeichnende Töne, die ursprünglich dienten, Vorstellungen von Dingen zu erweken, die solche oder ähnliche Töne hören lassen. Itzt sind sie meistens gleichgültige Töne, oder willkührliche Zeichen: die leidenschaftlichen Töne sind natürliche Zeichen der Empfindungen. Eine Folge gleichgültiger Töne bezeichnet die Rede, und eine Folge leidenschaftlicher Töne, den Gesang.

Der Mensch ist natürlicher Weise geneigt so wol den vergnügten, als den traurigen Empfindungen, zumal, wenn sie von zärtlicher Art sind, nachzuhängen, und sich in denselben gleichsam einzuwiegen. Nun scheinet das Gehör gerade derjenige von allen Sinnen zu seyn, der zu Reizung und Unterhaltung der Empfindungen gemacht ist. Wir sehen, daß Kinder, die noch nichts von Gesang wissen, wenn sie in vergnügter oder trauriger Laune sind, sich durch dazu schikende Töne darin unterhalten. Durch diese Töne hat die Laune etwas Körperliches, woran sie sich festhalten und wodurch sie sich eine Fortdauer verschaffen kann. Daraus läßt sich einigermaaßen begreifen, wie der Mensch, bey gewissen Empfindungen, eine Reyhe singender Töne bildet, und sich dadurch in dem Zustand einer, ihn beherrschenden Laune, unterhält.

Dieses allein macht aber den Gesang noch nicht aus; denn erst, wenn abgemessene Bewegung und Rhythmus zu dem vorhergehenden hinzukömmt, entsteht der eigentliche Gesang. Auch diese scheinen, so wie die leidenschaftlichen Töne, in der Natur der Empfindungen ihren Grund zu haben. Eine bloße Wiederholung solcher Töne ist nicht hinreichend, das Nachhängen der Empfindung und das Beharren in derselben zu bewürken; dieses thut eine gleichförmig anhaltende Bewegung besser. So wie das Wiegen die Sammlung der Lebensgeister zur Ruhe befördert, und den Geist in dem Zustande, darin er einen Gefallen hat, unterhält, so giebt es ähnliche Bewegungen, wodurch andre Empfindungen fortdaurend unterhalten werden. Dieses fühlt auch der rohe unachtsame Mensch, und das noch nicht nachdenkende Kind. Man sieht, daß beyde mit der Wiederholung leidenschaftlicher Töne, eine gewisse gleichförmige Bewegung des Körpers, ein regelmäßiges und in gleichen Zeiten wiederholtes Hin- und Herwanken desselben verbinden, worin ohne Zweifel der natürliche Ursprung des Takts zu suchen ist. Nichts ist bequämer, uns eine Zeitlang in denselben Empfindungen zu unterhalten, als eine gleichförmige, in gleiche Glieder abgetheilte, Bewegung, wodurch die Aufmerksamkeit auf denselben Gegenstand festgehalten wird. Und so läßt sich einigermaaßen der Ursprung des Gesanges begreifen, den man durch eine, in bestimmter einförmiger Bewegung fortfließende Folge leidenschaftlicher Töne, erklären kann. Bey allen Nationen, selbst denjenigen, die dem Stande der Wildheit noch am nächsten kommen, findet man Tanzgesänge von genau bestimmtem Takt und Rhythmus: und diese Beobachtung bestätiget das, was wir vom Ursprung des Gesanges angemerkt haben. Es ist zum Gesang nicht nothwendig, daß die Töne von menschlichen Stimmen angegeben werden, denn auch einer bloßen Instrumentalmelodie giebt man den Namen des Gesanges, so daß die Wörter, Gesang und Melodie, meistentheils [460] gleichbedeutend sind. Aber der Gesang der menschlichen Stimme ist freylich der ursprüngliche und vollkommenste, weil er jedem Ton auf das genaueste die besondere Bildung, die der Affekt erfodert, geben kann; da einige Instrumente, wie das Clavier, ihn gar nicht modificiren können, andre aber es doch weit unvollkommener thun, als die Kehle des Sängers.

Die wesentliche Kraft der Musik liegt eigentlich nur im Gesang; denn die begleitende Harmonie hat, wie Roußeau sehr richtig anmerkt, wenig Kraft zum Ausdruk: sie dienet blos den Ton anzugeben und zu unterstützen, die Modulation merklicher zu machen, und dem Ausdruk mehr Nachdruk und Annehmlichkeit zu geben. Aber in der Melodie allein liegen die mit unwiderstehlicher Kraft belebten Töne, die man für Aeusserungen einer empfindenden Seele erkennt. Der Mensch hat drey Mittel seinen Gemüthszustand an den Tag zu legen; die Rede, die Mine nebst den Gebehrden, und die leidenschaftlichen Töne. Das letzte übertrift die andern an Kraft sehr weit, und dringet schnell in das innerste der Seele.


Fortius irritant animos demissa per aurem

Quam quæ sunt oculis subjecta.1


Daher hat der Gesang über alle Werke der Kunst den Vorzug, um Leidenschaft zu erweken. Die Zeichnung giebt uns Kenntnis der Formen, und der Gesang erwekt unmittelbar das Gefühl der Leidenschaft. Hiervon ist aber an einem andern Ort ausführlicher gesprochen worden.2 Hier wird dieses nur darum angeführt, um den Tonsetzer, der dieses ließt, zu überzeugen, daß er sein größtes Verdienst durch den Gesang erwerben müsse. Er muß ein reiner Harmoniste seyn, aber blos um seinem Gesang die völlige Reinigkeit zu geben. Da aber diese ohne den Ausdruk zu nichts dienet, so muß sein größtes Studium auf den leidenschaftlichen Gesang gerichtet seyn. Melodie, Bewegung und Rhythmus sind die wahren Mittel das Gemüth in Empfindung zu setzen: wo diese fehlen, da ist die höchste Reinigkeit der Harmonie eine ganz unwürksame Sache.

Wir rathen deswegen den jungen Tonsetzern, nicht alle ihre Zeit auf das Studium der Harmonie zu wenden, sondern den Gesang, als die Hauptsach ihrer Kunst anzusehen. Melodische Schönheiten muß das Genie ihnen eingeben; aber um eine völlige Kenntnis von Bewegung und Rhythmus zu erlangen und beyde in seine Gewalt zu bekommen, dazu wird Arbeit und Studium erfodert. Die Tanzmelodien verschiedener Nationen enthalten beynahe alle Arten der Bewegung und des Rhythmus, und nur der, welcher sich hinlänglich darin geübt hat, kann ein Meister im Gesang werden.

Von dem Vortrag des Gesanges, wird in einem besondern Artikel gesprochen.3

1Horaz sagt segnius, aber er redet von der gemeinen Sprache. Des Dichters Anmerkung wird sehr zur Unzeit angeführt, um die Kraft der Mahlerey über die Musik damit zu beweisen. Horaz sagt in dieser Stelle, die Sachen, die man sehe, machen stärkern Eindruk, als die, welche man nur aus Erzählungen oder Beschreibungen vernehme, und dieses ist völlig richtig: wir sagen, daß überhaupt die Seele durch das Gehör stärker, als durch das Gesicht gerührt werde, und auch dieses ist wahr. Die gebrochenen Töne, die der Schmerz einem leidenden Menschen auspreßt, dringen stärker in uns, als die Leidenankündigenden Gesichtszüge.
2S. Musik.
3S. Singen.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 459-461.
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