Studium

[1115] Studium. (Schöne Künste)

Zu einem vollkommenen Künstler werden drey Dinge zugleich erfodert, Genie, Kenntnis und Fertigkeit. Das erste giebt die Natur, das zweyte wird durch das Studium, und das dritte durch Uebung erlanget. Wir verstehen also durch Studium alle Bemühungen, die der Künstler anzuwenden hat, um die Kenntnisse jeder Art, die ihm nöthig sind, zu erlangen. Bisweilen giebt man dem Wort auch eine weitere Bedeutung, und begreift auch die Uebung selbst mit darunter; wir sprechen aber von dieser besonders. Doch schließen wir die Uebung nicht ganz vom Studium aus; denn es gehöret noch einigermaaßen mit zum Studiren, daß man sich in der Fertigkeit zu sehen und zu empfinden übe. Der Mahler muß sein Aug, der Tonsezer sein Ohr, und jeder Künstler überhaupt Verstand, Geschmak und Empfindung an allen Gegenständen der Kunst üben; und dieses ist von der eigentlichen Uebung, das, was man empfunden hat, auszudrüken, unterschieden, und kann noch zum Studium gerechnet werden.

Wenn man Natur und Kunst gegen einander stellt, in der Absicht zu erforschen, was jede zum vollkommenen Künstler beytrage, so gehört auch das Studium zur Kunst: und so hat es Horaz ohne Zweifel verstanden, wenn er beyden einen gleichen Antheil an der Vollkommenheit eines Werks zuschreibt. Das Genie, und was man überhaupt Gaben der Natur nennt, sie bestehen in äußerlichen, oder innerlichen Fähigkeiten, machen eigentlich die Grundlage des Künstlers aus; aber man würde sich sehr betrügen, wenn man glaubte, daß außer dem denn weiter nichts, als äußerliche Uebung in dem Mechanischen der Kunst hinzukommen müsse. Man betrachte nur die Werke der Künstler, die vorzügliches Genie zeigen, wie Homer, oder Shakespear; so wird man sich bald überzeugen, daß sie die Gegenstände ihrer Kunst mit weit mehr Fleis und Genauigkeit betrachtet und überlegt haben, als andre Menschen thun, und daß eben dieses ihr Genie in stand gesezt hat, sich in dem hellen Lichte zu zeigen, das wir bewundern. Aus jeder Schilderung sichtbarer Dinge, die Homer mit Fleis einmischt, bemerkt man einen Menschen, der mit ausserordentlicher Aufmerksamkeit jeden Gegenstand betrachtet, auf alles, was darin vorkommt, genau Acht hat, und es recht gefließentlich darauf anlegt, ihn in der höchsten Klarheit und Lebhaftigkeit zu sehen. Eben so deutlich erhellet aus Shakespears sittlichen und leidenschaftlichen Schilderungen, daß er sich ein ernstliches Studium daraus gemacht hat, jeden Charakter von einiger Kraft, jede Leidenschaft, bis auf das Innerste ihrer Beschaffenheit zu erforschen. Es ist deswegen eben so wichtig zu studiren, als Talente zu haben; denn beydes muß da seyn, wenn der Künstler groß werden soll.

Aber es ist bey der Theorie der Kunst nicht genug, daß man den Künstler von der Nothwendigkeit des Studirens überzeuge, man muß ihm auch sagen, wie er sein Studium am vortheilhaftesten einzurichten habe. Mancher geht lang in der Irre herum, und giebt sich viel Müh, die ihm zulezt wenig hilft, weil er auf Nebensachen studirt hat. Diejenigen Kunstrichter und Künstler, die gründlichen Unterricht zu der vortheilhaftesten Art in jeder Kunst zu studiren, gäben, würden dadurch jungen Künstlern einen sehr wichtigen Dienst erweisen. Wir halten eine aus der Natur der Sachen hergeleitete Anweisung zum Studiren für nüzlicher als alle Regeln, weil das wahre Studium jeden die Regeln selbst erfinden läßt. [1115] Von dem allgemeinen Studiren, das überhaupt die Aufklärung des Verstandes und Erweiterung der Vorstellungskraft zum Zwek hat, und wodurch nicht nur der Künstler, sondern jeder andere Mensch, der sich künftig in Geschäften, die vorzügliche Gemüthsgaben erfodern, hervorthun soll, zu seinem Beruffe vorbereitet wird, wollen wir hier nicht sprechen; weil es den zukünftigen Künstler nicht allein angeht. Doch können wir nicht unangemerkt lassen, daß jede Uebung, wodurch die verschiedenen Anlagen des Genies überhaupt entwikelt werden, und jede Kenntnis, die den Gesichtskreis des Menschen überhaupt erweitert, auch dem Künstler höchst nüzlich sey. Es hat zwar große Künstler gegeben, die von den Schulstudien völlig entblößt gewesen. Aber es läßt sich allemal vermuthen, daß Unwissenheit und engere Schranken des Verstandes, die aus Mangel gründlicher Schulstudien herkommen, auch solche große Künstler in manchem Stük in der Kunst selbst einschränken. Man sagt, daß dem großen Raphael die Einsichten einiger fürtreflicher Männer von grosser Gelehrsamkeit, die er sich zu Freunden gemacht hat, in manchem Werke, wobey der Mangel an Studien sein Genie etwas würde gehemmt haben, sehr nüzlich gewesen. Darum würden wir allemal rathen, dem künftigen Künstler, so viel es ohne den Kunstübungen Abbruch zu thun, geschehen kann,1 eine so genannte gelehrte Erziehung zu geben. Wenn sie nur gründlich ist, so wird sie ihn gewiß künftig in der Kunst selbst einige Grade höher heben, die er ohne dieselbe nicht würde erreicht haben.

Wir haben aber hier eigentlich nur das Studium zu betrachten, daß der Künstler bey reiffern Jahren und blos in Absicht auf seine Kunst zu treiben hat. Dieses geht auf folgende Hauptpunkte: 1. Auf allgemeine Kenntnis des Menschen. 2. Auf Kenntnis der besondern Charaktere und Sitten, ganzer Völker und einzeler Menschen. 3. Auf Kenntnis der sichtbaren Natur und 4. auf Kenntnis der Kunstwerke und der Künstler:

1. Im Grunde sind die schönen Künste nichts anders, als Künste gewissen Absichten gemäß, auf die Gemüther der Menschen zu würken:2 und hieraus erhellet hinlänglich, wie wesentlich nothwendig jedem Künstler die Kenntnis der menschlichen Natur ist. Wie könnt' er ohne sie wissen, was in jedem Fall erfodert wird, Eindrüke von gewisser Art auf die Gemüther zu machen? Dieses Studium muß der Künstler mit genauer Beobachtung seiner selbst anfangen. Er muß sich angewöhnen, auf alles, was in ihm selbst vorgeht, Acht zu haben, und vornehmlich jede Rührung, die mit merklicher Lust oder Unlust verbunden ist, folglich Begierd' oder Abneigung erwekt, genau zu beobachten. Ein Mensch der sich selbst nie klar und bestimmt bewußt ist, was er denkt und empfindet, kann auch andere nicht kennen lernen. Wie so viel tausend Menschen täglich sprechen, ohne jemals auf die Sprache, deren sie sich bedienen Acht zu haben, um zu unterscheiden, wie vielerley Arten der Wörter vorkommen, und wie einige davon die Dinge, von denen man spricht, blos bezeichnen, andre ihre fortdaurende Beschaffenheit, noch andre vorübergehende Veränderungen darin ausdruken u.s.f.; so geht es auch überhaupt denen, die kein besonderes Studium daraus machen, mit der Kenntnis ihrer selbst; sie reden, handeln, fühlen sich bald angenehm, bald unangenehm gerühret u.s.w. ohne sich jemals der Dinge, die in ihnen vorgehen, deutlich bewußt zu seyn. Sie empfinden jede Leidenschaft, ohne von einer einzigen sagen zu können, was sie eigentlich ist, und wie sie entsteht; sie haben Gefallen oder Mißfallen an vorkommenden Dingen, und wissen nie zu sagen, was ihnen eigentlich daran gefällt, oder mißfällt. Solche Menschen gehören zum gemeinen Haufen, der überall mechanisch handelt, wie die Umstände es veranlassen, ohne recht zu wissen, was er thut, oder warum er so und nicht anders handelt.

Der Künstler, der sich selbst so wenig beobachtete, würde noch weit weniger wissen, was in den Gemüthern andrer Menschen vorgeht, folglich zu den wichtigsten Werken der Kunst untüchtig seyn. Durch fleißiges Nachdenken über seine Gedanken, Empfindungen, deren Veranlassung und Beschaffenheit aber wird er auch im Stand gesezt, andre Menschen kennen zu lernen.

2. Allgemeine Kenntnis der menschlichen Natur ist dem Künstler noch nicht hinlänglich, er hat mehr, wie jeder andere nöthig, die mancherley Charaktere und Sitten der Menschen zu kennen. Denn diese sind der wichtigste Stoff, den jede Kunst bearbeitet, darum muß er ein besonderes Studium daraus machen, so vielerley Menschen, als ihm möglich ist, kennen zu lernen. Er muß sich die Gelegenheit machen, viel mit Menschen von allerley Art, Stand und Charakter umzugehen; vornehmlich aber [1116] diejenigen besondern Gelegenheiten zu Nuze machen, wo interessante Geschäfte sie in volle Würksamkeit sezen, da sich die Stärke des Genies und die Wärme des Herzens frey entwikeln können. Es ist nicht möglich die Kenntnisse dieser Art, die dem Künstler nothwendig sind, anders, als durch einen ziemlich ausgebreiteten Umgang zu erlangen; aber auch dieser würde wenig nüzen, wenn der Künstler nicht unaufhörlich die Aufmerksamkeit gleichsam gespannt hielte, um alles, was das Innere der Menschen verräth, auf das genaueste zu bemerken.

Dieses Studium der Charaktere der Menschen wird aber erst alsdenn recht nüzlich, wenn man hinlängliche Kenntnis der mancherley Arten der Geschäfte, der Angelegenheiten und mancherley durch einander laufenden Interessen, des öffentlichen und Privatlebens hat. Darum sollte der Künstler sich auch angelegen seyn lassen, diese Kenntnisse zu erwerben. Er kann damit anfangen, daß er erst das Volk, oder die bürgerliche Gesellschaft in der er lebt, nach den verschiedenen Ständen, Geschäften, und Angelegenheiten jedes Standes, genau kennen lernt: denn kann er aus der Geschichte andre Völker und Staaten damit vergleichen, und so allmählig zu einer guten Kenntnis der Welt und des menschlichen Geschlechts gelangen.

3. Hiezu muß nun auch das Studium der sichtbaren Natur kommen. Man ruft dem Künstler von allen Orten her zu, die Natur sey die wahre Schule, wo er seine Kunst lerne könne; aber er muß auch wissen, wie er in dieser Schule studiren soll. Die Natur ist im eigentlichen Verstande die Lehrmeisterinn des Künstlers; weil sie gerade auf den Zwek arbeitet, den auch die schönen Künste sich vorsezen.3 Der allgemeine Charakter der Werke der Kunst4 ist in allem, was die Natur hervorgebracht hat, anzutreffen. Durch tägliches Betrachten derselben wird der Geschmak gebildet. Gefühl des Schönen, der Einheit und Mannigfaltigkeit, Uebereinstimmung der äußern Form mit dem innern Charakter, der Harmonie aller Theile, der Wahrheit und Vollkommenheit, und kurz jeder Eigenschaft eines ganz vollkommenen Werkes, wird durch fleißiges und überlegtes Beobachten der mannigfaltigen Werke der Natur nothwendig geschärft. Zu diesem allgemeinen Vortheil kommt noch der besondere, daß die meisten Künste ihren zu bearbeitenden Stoff, die redenden aber ihre Bilder, zu Gleichnissen, Vergleichungen und Metaphern, in großem Reichthum und Mannigfaltigkeit darin antreffen. Darum erleichtert die Kenntnis der Natur dem Künstler die Erfindung, und giebt ihm einen Reichthum sinnlicher Vorstellungen, die er auf das Vortheilhafteste brauchen kann. Man wird daher fast immer finden, daß vorzügliche Künstler sehr genaue und fleißige Beobachter der ganzen sichtbaren Natur sind, die ihr Aug' auf alles, was ihnen vorkommt, mit einer Art von unersättlicher Gierigkeit werfen. Und es geschieht nicht selten, daß man das Vergnügen hat, Dinge, die uns in den Werken großer Künstler am meisten gefallen, und die wir ihrer Erfindungskraft zugeschrieben haben, endlich in der Natur anzutreffen.

4. Endlich ist auch besonders das Studium der besten Kunstwerke selbst, eine sehr vortheilhafte Sache für den Künstler. Es ist eine allgemein erkannte Wahrheit, daß Beyspiehle, wo nicht besser, doch schneller unterrichten, als Regeln; diese Beyspiehle nun findet man in den Werken der besten Künstler. Wer Genie zu einer Kunst hat, bekommt so gleich bey Betrachtung vorzüglicher Werke, mehr Licht, über das Praktische derselben, als ein langer Unterricht ihm geben könnte. Zu einem vollkommenen Werke der Kunst gehören so sehr vielerley Dinge; es ist auch von dem besten Kunstgenie nicht zu erwarten, daß es gar alle von selbst erreichen werde. Ein Künstler ist in einem Punkt vorzüglich, ein andrer in einem andern. Darum werden nicht eher Werke, die in allen Theilen vollkommen sind, an den Tag kommen, bis große Künstler vielerley Werke ihrer Vorgänger gesehen haben, in denen sie Stükweise jeden einzeln Theil der Kunst in seiner Vollkommenheit erbliken. Man sagt von dem großen Raphael selbst, daß er nicht eher zu der Höhe gekommen, in der wir ihn izt bewundern, bis er die Gemählde des Michel Angelo gesehen hat. Für junge Künstler könnte nichts wichtigeres gethan werden, als daß jeder vorzüglich große Künstler aufrichtig öffentlich bekannt machte, was er in einem oder dem andern Theile der Kunst, aus Betrachtung fremder Werke, gelernt hat.

Sowol in dieser, als in andern Absichten ist es nüzlich, wenn gute Lebensbeschreibungen berühmter Künstler bekannt gemacht werden. Ihre Methoden zu studiren, die Umstände in denen sie sich befunden, ihre Bekanntschaften und alles, was überhaupt etwas[1117] zu ihrer Bildung beygetragen hat, kann andern zu wichtigen Lehren dienen.

1S. Uebungen.
2S. Künste.
3S. Künste.
4S. Werke der Kunst.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1115-1118.
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