[78] Anatŏmie, ein aus dem Griechischen entlehntes Wort, welches soviel als Zergliederung bedeutet, ist die Kunst oder Wissenschaft, welche die organischen Körper der Pflanzen, Thiere und Menschen nach gewissen Regeln zerlegt und die Kenntniß von ihrem Baue zum Zwecke hat. Es gibt demnach nicht blos eine Anatomie des Menschen, obschon man nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauche diese vorzugsweise so benennt, sondern auch eine Anatomie der Pflanzen und der Thiere, welche letztere auch vergleichende Anatomie oder Zootomie genannt wird. Die Anatomie des Menschen, welche sich in die des regelmäßigen Baues desselben und die der Abweichungen von demselben scheidet, ist eine der wichtigsten und unentbehrlichsten Hülfswissenschaften der Heilkunde und kann insofern die Grundlage derselben genannt werden, als ohne Kenntniß von dem Baue des menschlichen Körpers weder Einsicht in die natur- und gesundheitsmäßigen Verrichtungen desselben, noch erfolgreiche Behandlung seiner mannichfachen krankhaften Zustände denkbar ist, die, wenn sie ohne diese Kenntniß gelingt, immer nur als das Ergebniß eines glücklichen Zufalls zu betrachten ist. Der Arzt ist es also, der sich vorzugsweise mit ihr zu beschäftigen hat; aber auch der Naturforscher kann sie nicht entbehren. Die Anatomie zerfällt in eine allgemeine und besondere. Die allgemeine handelt von den Geweben, welche den ganzen Körper sowie seine einzelnen Theile bilden, ihren Eigenschaften, ihrer Entstehung und Veränderung in den verschiedenen Lebensaltern. Die besondere beschreibt einzeln die Theile, welche einer besondern Beschreibung fähig sind, oder diese wegen der Verrichtung, der sie dienen, nöthig machen. Sie wird wieder in einzelnen Lehren vorgetragen, in denen diejenigen Theile des Körpers zusammengestellt und nacheinander beschrieben werden, die von der Natur zu gewissen Zwecken planmäßig in Verbindung gebracht worden sind, und so gibt es denn eine besondere Lehre von den Knochen, von den Bändern, Muskeln, Gefäßen, Nerven, Eingeweiden u.s.w. Um die Gestalt, die Lage und den Bau einzelner Organe des Körpers nachzuweisen, trennt der Anatom dieselben entweder mit dem Messer von den sie umgebenden und verbergenden Theilen oder er sucht denselben Zweck auch auf andere Weise zu erreichen; z.B. er spritzt die Gefäße mit gefärbtem Wachs, Quecksilber oder andern Substanzen aus, bläst die hohlen Theile auf u.s.w. Ein so zubereiteter Theil heißt ein anatomisches Präparat. Diese Präparate werden zum Behufe des Studiums aufbewahrt, indem man sie je nach ihrer Natur austrocknet oder in Weingeist legt, der sie mit der möglichst geringsten Veränderung vor Fäulniß schützt. Eine geordnete Sammlung solcher Präparate wird ein anatomisches Museum oder Kabinet genannt, wo sich gewöhnlich auch noch Kupferwerke, Nachbildungen der Theile des Körpers in Wachs, Gyps, Papiermaché u.s.w. vorfinden. Solcher Museen gibt es fast in allen Universitätsstädten, besonders berühmt und reich sind aber die zu Berlin. Wien und Paris. Zergliederungen der Thierkörper wurden schon sehr früh vorgenommen, die des menschlichen Körpers jedoch lange Zeit durch verschiedene Glaubenslehren und Vorurtheile gehindert. In Ägypten wurden sie zuerst im 2. Jahrh. v. Chr. von alexandrinischen Gelehrten gewagt, doch blieb die Kenntniß der Alten von dem Baue des menschlichen Körpers immer sehr mangelhaft. Im Mittelalter vernachlässigte man die Anatomie gänzlich, bis sie im 15. und 16. Jahrh. von einzelnen ausgezeichneten Ärzten, wie Vesal, Eustach u.s.w. wieder ausgeübt und in neuerer Zeit so eifrig und erfolgreich bearbeitet wurde, daß sie gegenwärtig einen fast unerschöpflichen Schatz nützlicher und segensreicher Entdeckungen darbietet.