[243] Polen, einst das mächtigste Reich des Nordens, umfaßt jetzt nur einen Flächenraum von 2331 Quadrat M. zwischen Rußland, Preußen, Oestreich und Krakau, und steht als Königreich mit abgesonderter Verwaltung unter Rußlands Herrschaft. Das Ganze bildet eine fruchtbare, theils flache, theils wellenförmige Ebene, von der Weichsel, dem Niemen, Bug und vielen andern kleinern Flüssen durchströmt und nur im südlichen Theile die Vorberge der Karpathen aufnehmend. Das Klima ist rauher als das anderer Länder in[243] gleicher Breitenlage, aber der Produktenreichthum läßt nichts zu wünschen übrig; hieß Polen doch sonst die Kornkammer Europa's! Noch jetzt erzeugt es Getreide aller Art, Gemüse, Obst etc. über den Bedarf: das Mineralreich gibt Silber, die meisten unedlen Metalle, Marmor, Steinkohlen, Salz etc.; in den großen Wäldern lebt noch der Auerochse und das Elenthier, außerdem viel Pelzwild, als Bären, Wölfe, Luchse etc., während die polnischen Pferde einen bedeutenden Handelsartikel ausmachen, und die Schaf- und Bienenzucht auf einer hohen Stufe steht. Auch die Industrie hat sich in neuerer Zeit gehoben, namentlich seit die Regierung fremden Fabrikanten und Professionisten die Ansässigmachung sehr erleichtert. Unter den 4,200,000 Ew. sind über 400,000 Juden, welche wahrscheinlich in den Zeiten der Kreuzzüge aus Deutschland eingewandert sind und sich nach und nach so vermehrt haben. Sie genießen überall mit den Christen gleiche Rechte, treiben Handel und alle Gewerbe, und haben sich dem zahlreichen Adel ganz unentbehrlich zu machen gewußt. Nicht selten findet man ungewöhnliche Schönheiten unter den Jüdinnen, die sich durch ein längliches Gesicht, zarten Teint und blaue Augen leicht unterscheiden lassen. Originell, aber nicht unangenehm, ist ihre Art den Kopf zu schmücken; ein bindenartiges Kopfzeug umgibt nämlich die auf dem Wirbel zusammengefaßten Haare, und auf beiden Seiten hängen Perlenreihen, Flügel bildend, herab. Diese Reihen bestehen bei den Reichen aus echten, in Gold gefaßten Perlen; die Armen nehmen Glasperlen von weißer, rother oder gelber Farbe. Mit Ausnahme der größten Hôtels in Warschau etc. sind die Juden im Besitz aller Wirthshäuser, denen jedoch Reinlichkeit sehr mangelt. Auffallend groß ist die Zahl der Edelleute, die zum Theil in fürstlichem Reichthum schwelgen, theils aber so arm sind, daß sie ihren reichen Brüdern oder den Bürgern der Städte dienen müssen. Sie besitzen noch viele Vorrechte, obgleich der Bauer jetzt persönlich frei ist und Eigenthum erwerben darf. Aber der Edlen schönster Reichthum sind ihre Frauen, [244] deren Schönheit und Anmuth fast zum Sprichworte geworden ist. Sie lieben alles Edle, Große und Erhabene, und die Geschichte bewahrt viele Züge ihres hohen Heldenmuths und der Bereitwilligkeit, aus Liebe zum Vaterlande Leben und Gut zu opfern. Bei lebhafter Fassungskraft ist ihre Conversation leicht und angenehm; ihre Jugendbildung wird durch Sprachtalent, Geschmack und Gewandtheit bedeutend unterstützt, und bei alledem sind ihre Sitten einfach und ohne Prätension, höflich und herzlich. Leider ist ihre geschmackvolle Nationaltracht, aus einem weiß atlassenen Unterkleide mit einem kürzern bis an die Knie reichenden, mit Pelz besetzten Oberkleide bestehend, durch die franz. Kleidung ganz verdrängt. Während Polens äußere Macht immer mehr schwand und das Gebiet seiner Sprache sich verkleinerte, hat sich die Literatur gehoben, eine Erscheinung, die ganz im Gegensatze zu der Kulturgeschichte anderer Völker steht. An Mickiewicz, unstreitig einen der ersten jetzt lebenden Dichter, reihen sich Odyniae, Alexander Chodzko, Julian Korsak und viele Andere, während Barnatowicz (auch in Deutschland durch Uebers. bekannt) als ausgezeichneter Romanschreiber glänzt, und Graf Fredro und Kaminski nicht ohne Glück für's Theater arbeiten. Die Geschichte P's ist uns länger, als die der meisten übrigen europ. Länder dunkel, denn bis 840 sind nur Sagen ohne alle Beglaubigung vorhanden. Die Römer kamen nicht hierher, erwähnen aber der Sarmaten als Bewohner des Landes zwischen der Ostsee und dem schwarzen Meere, von Serbien bis über die Grenzen Schlesiens, einer über 20,000 Quadrat M. großen Strecke, zum größern Theile dem alten Polen angehörend. Ein bedeutender Zweig dieses Volkes, dem zahlreichen Slavenstamme entsprossen, stand um 840 unter einem Fürsten Piast, der 50 Jahr regiert und 120 J. gelebt haben soll. Sein Geschlecht herrschte bis 1370, nach und nach Schlesien, die Lausitz, Mähren, Preußen etc. Polen zinsbar machend. Das Christenthum brach sich 965 Bahn, und besaß 992 bereits eine große Anzahl Kirchen und Bisthümer.[245] 1370 bestieg Ludwig von Anjou, König von Ungarn, den polnischen Thron, starb aber schon 1382, worauf seine jüngste Tochter Hedwig (s. d.) zur Königin gekrönt wurde und durch ihre Vermählung mit Jagello, Großfürsten von Lithauen, dieses Land mit dem Reiche vereinigte. Meist glücklich herrschten die Jagellonen bis 1572, wo nach Sigismund's II. Tode der polnische Reichstag das unbedingte Wahlrecht der Könige sich zueignete, und so den innern Unruhen die Thüre öffnete. Nur wenige tüchtige Regenten (Ladislaus IV., starb 1648, Johann Sobieski, starb 1696, und Stanislaus Leszczynski, während seiner kurzen Regierung) vermochten den Verfall des Reichs aufzuhalten; eine Verfassung, welche dem Könige fast gar keine Gewalt ließ, und Reichstage, deren oft dringend nöthige Beschlüsse durch den Widerspruch eines Einzelnen umgestoßen wurden, standen allen durchdringenden Reformen entgegen. Die Ehre der polnischen Waffen hielt Sobieski noch aufrecht, er befreite mit seinen tapfern Polen 1683 Wien von den Türken und schlug sie wiederholt. Unter den andern schwachen, durch Wahl zur Regierung berufenen Fürsten gingen die Nebenländer verloren, und während alle Nachbarn erstarkten, zerrütteten ewige Unruhen das in viele Parteien gespaltene Land. 1772 beschlossen Rußland, Oestreich und Preußen die erste Theilung, durch welche 3925 Quadrat M. von Polen abgerissen wurden. Jetzt erkannte man allerdings die Fehler der Verfassung, und die neue Constitution vom 3. Mai 1791 würde ohne Zweifel die Wunden des Landes geheilt haben, wenn nicht neuer Zwiespalt von Außen angeregt worden wäre, in dessen Folge die drei Mächte eine zweite Theilung anordneten und wieder gegen 6000 Quadrat M. von P. abrissen. Der Aufstand des Volkes unter Kosciuszko (1794) hatte trotz der heldenmüthigsten Anstrengungen keinen andern Erfolg, als daß im folgenden Jahre die dritte Theilung das früher so große Polen aus der Reihe der selbstständigen Nationen ganz verdrängte; ein letzter König Stanislaus August starb 1798 in Petersburg.[246] Erst Napoleon's Siege schufen 1807 ein neues Herzogthum Warschau unter Leitung des Königs Friedrich August von Sachsen, welches beim Beginn des Krieges gegen Rußland (1812) 2800 Quadrat M. zählte und von den Polen als die Grundlage eines neuen Königreichs freudig begrüßt wurde. Die unglückliche Wendung des erwähnten Krieges zertrümmerte den jungen Staat; Preußen und Oestreich erhielten bedeutende Strecken davon, Krakau wurde ein Freistaat und der Rest kam an Rußland unter dem Namen eines Königreichs (1815). Jene Wunden, welche das seitdem falsch behandelte Volk der unglücklichen Revolution von 1830 verdankt, werden noch lange bluten; die Edelsten des Landes leben im Auslande oder sind gefangen, und erst wenn die Zeit ihre lindernde Wirkung geäußert und der neue Herrscherstamm Vertrauen und Liebe erworben hat, dürften Polens Fluren und Städte wieder aufblühen.
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Brockhaus-1911: Polen · Noch ist Polen nicht verloren
DamenConvLex-1834: Maria Kasimire, Königin von Polen · Hedwig, Königin von Polen · Barbara Radzivill, Königin v. Polen
Meyers-1905: Polen [2] · Polen [3] · Russisch-Polen · Kongreß-Polen · Noch ist Polen nicht verloren · Polen [1]
Pierer-1857: Polen [3] · Wahltag in Polen · Polen [2] · Organisches Statut für Polen · Polen [1]
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