Polen [2]

[86] Polen (poln. Polacy, Einzahl Polak), slaw. Volksstamm, zur westlichen Gruppe der Slawen (mit Tschechen, Slowaken, Sorbenwenden) gehörig (s. Slawen), der seine Wohnsitze vornehmlich in Rußland, Österreich und Preußen hat und in Europa zurzeit (1906) etwa 17 Mill. Köpfe zählen mag. Ihren Hauptsitz haben sie im westlichen europäischen Rußland, wo ungefähr die Linie Zamosć-Suwalki die P. von den Russen trennt, und zwar die kompakte Masse in Russisch-Polen, d. h. in den jetzigen zehn sogen. Weichselgouvernements (und einem Teil des angrenzenden Gouv. Grodno), wo nach der Zählung von 1897: 6,755,503 Einw. polnischer Abkunft leben, 71,9 Proz. der Gesamtbevölkerung. Außerdem wurden in den angrenzenden Gouvernements Westrußlands Kowno, Wilna, Witebsk, Minsk, Mohilew, Wolynien, Podolien noch 655,509, ferner in den Gouvernements Kiew 68,791, Cherson 30,894, Petersburg 45,009, Kurland 19,688, Livland 15,132 P. gezählt. Die P., die in all den letztgenannten Gebieten in eingesprengten Sprachinseln zwischen Groß- und Kleinrussen, bez. Litauern und Letten leben, gehören zum großen Teil dem grundbesitzenden Adel, ferner der katholischen und evangelischen Geistlichkeit sowie besonders den Bewohnern der Städte an und spielen unter der sie umgebenden vorwiegend ländlichen Bevölkerung der andern Nationalitäten eine über ihr Zahlenverhältnis weit hinausgehende herrschende Rolle. Im asiatischen Rußland betrug die Zahl der P. 14,587, die Gesamtsumme in Rußland überhaupt 73/4-8 Mill. In Österreich (vgl. die »Ethnographische Karte von Österreich-Ungarn«) haben sie ihren Hauptsitz in Galizien, namentlich in dessen westlichem Teil bis zum San; es wurden dort 1900 fast gerade 4 Mill. (54,7 Proz. der Provinz) gezählt. In Österreichisch-Schlesien (besonders im O.) wurden 220,472 (33,2 Proz.) gezählt, in der Bukowina 26,857 (3,67 Proz.), zusammen in Österreich 4,259,152 (16 Proz. der österreichischen Reichshälfte). Für Preußen ergab die Zählung von 1900: 3,063,490 P., ohne die 100,212 Kassuben (fast ausschließlich in Westpreußen) und die 142,047 meist evangelischen Masuren (fast sämtlich in Ostpreußen), also im ganzen 3,305,749 (9,57 Proz.). Am stärksten vertreten sind die P. im Osten des preußischen Staates, finden sich aber auch im äußersten Westen. In Posen trennt eine Linie von Bromberg nach Birnbaum und von da nach Militsch das vorwiegend deutsche vom vorwiegend polnischen Gebiet (Näheres s. Posen, Provinz). Von Militsch aus südwärts durchschneidet die Linie die Oder zwischen Brieg und Oppeln und endet nördlich von Troppau (s. die Provinzkarten von »Posen« und »Schlesien«). Von den in Preußen lebenden P. kamen auf:

Tabelle

In den preußischen Provinzen Rheinland wurden 26,785, in Hannover 10,702 und in Schleswig-Holstein 4301 P. gezählt, ganz unbedeutend ist ihre Zahl in der Provinz Hessen-Nassau und in Hohenzollern sowie in den übrigen Staaten des Deutschen Reiches. 16,378 P. entfallen auf den Stadtkreis Berlin (0,8 Proz.). Nach Regierungsbezirken geordnet finden wir die stärkste polnische Bevölkerung in Posen (62 Proz.) und Oppeln (60 Proz.), dann in Bromberg (48), Marienwerder (37), Danzig (26), Gumbinnen (20) und Königsberg (15), wobei Masuren und Kassuben mitgerechnet sind. Die Gesamtzahl der im Deutschen Reich lebenden P. betrug 1900: 3,328,751. Über die Zahl der in andern europäischen (Frankreich, der Schweiz etc., namentlich in Paris und Genf) und außereuropäischen Staaten ansässigen P. liegen keine offiziellen Angaben vor (polnische Statistiker nehmen 2 Mill. an); nur der Zensus der Vereinigten Staaten von 1898 führt 200,000 (?) als in Polen Geborne auf, die über die Union verstreut sind und in größern Mengen nur in Illinois (Chicago 96,258), Pennsylvanien, New York, Michigan und Wisconsin wohnen.

Der Religion nach sind die P. überwiegend römisch-katholisch (96 Proz.), nachdem sie seit 1564 von dem schnell bei ihnen eingebürgerten protestantischen Bekenntnis durch Jesuiten für die römische Kirche wiedergewonnen wurden. Die Zahl sämtlicher polnischer Katholiken in Rußland, Österreich und Preußen wird auf 12,960,000 berechnet. Von den übrigen Religionsbekenntnissen, deren Anhänger auf etwas über 566,000 (4 Proz.) veranschlagt werden, gehören 460,000 (3,4 Proz.) der evangelischen Kirche an, 70,000 (0,5 Proz.) der griechisch-unierten, 8000 der orthodoxen, 19,000 (0,15 Proz.) sind polonisierte Juden und 9200 Mohammedaner (in den Gouvernements Sjedlez, Suwalki, Grodno etc.).

Die P. sind von mittelgroßem, meist hagerm, aber kräftigem Körperbau; der helle, blond- oder braunhaarige Typus herrscht vor, der Schädelbau ähnelt dem der Russen (Index 82,1). Die hervorstehenden Backenknochen und die etwas eingedrückte Nase deuten auf die slawische Abstammung. Man schreibt dem Polen leichte Beweglichkeit, schnelle Fassungsgabe, Sinn für schöne Formen, eine fast übertriebene Höflichkeit, anderseits aber auch Zügellosigkeit, Leichtsinn, Jähzorn, Unzuverlässigkeit zu. Für frühere Jahrhunderte mag dies im ganzen zutreffend sein, dem genauern Beobachter aber zeigt sich ein großer Unterschied in den von den drei großen Nachbarstaaten erzielten Erziehungsresultaten des polnischen Volkes. Die beste Bildung haben unzweifelhaft die Posener P. bekommen, denn ohne gute polnische Eigenschaften aufzugeben, haben sie von den Deutschen Ausdauer und Sparsamkeit angenommen und deutsche Schulen durchgemacht, wodurch sie vorteilhaft von ihren unter russischem Zepter lebenden Brüdern abstechen. Die österreichischen P. haben mit der Erhaltung größerer nationaler Eigenart auch ihre nationalen Fehler reiner erhalten: in unfruchtbarem Parteihader und kläglicher Pfaffenwirtschaft zersplittern sie ihre besten Kräfte. Vgl. Hervet, Ethnographie Polens (Wien 1871); Kolberg, Das polnische Volk (poln., Krakau 1871 ff.); Szulski, Die P. und Ruthenen in Galizien (Teschen 1882); Erckert, Atlas ethnographique des provinces habitées par des Polonais (Petersb. 1863); Czynski, Etnograficzno-statystyczny zarys liczebnosci i rozsiedlenia ludnosci polskicj (Warsch. 1887); Tetzner, Die Slawen in Deutschland (Braunschw. 1902).[86]

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 86-87.
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