Bewußtsein

[146] Bewußtsein bedeutet im weitesten Sinne den Zusammenhang der psychischen Erlebnisse in einem Individuum (Individualbewußtsein) oder in einer socialen Gemeinschaft (Collectivbewußtsein, Gesamtbewußtsein,[146] (s. d.)). Bewußtsein heißt ferner das Gattungsmäßige aller psychischen Vorgänge, ihr gemeinsames Wesen, ihr Charakter als Erlebnis, Für-ein-Ich-sein. Vom Ich ausgesagt, ist das Bewußtsein eine subjective Tätigkeit, ein Zustand, eine Modification des Ich: actives Bewußtsein. Von den Objecten ausgesagt, ist es Bewußtheit, im Sinne von passivem Bewußtsein, ein Ausdruck für den Umstand, daß etwas, ein Inhalt, in den Zusammenhang des Ich getreten ist oder sich bereits darin befindet oder befunden hat. Im engeren Sinne ist Bewußtsein aufmerksames Erlebnis, im engsten Sinne = Gewußtsein bezw. Wissen, reflectiertes Bewußtsein und dazu auch noch Selbstbewußtsein. Das Bewußtsein ist keine für sich, gesondert von den Erlebnissen existierende Wesenheit, Tätigkeit oder Eigenschaft, sondern in und mit dem Psychischen schon (in verschiedenen Graden der Activität und der Helligkeit) gegeben; in dieser Weise aber hat es unmittelbare Wirklichkeit und causalen Charakter, ist es ein ursprünglicher, nicht weiter ableitbarer Factor alles psychischen Geschehens. Es »enthält« immer ein Ich-Moment und eine Reihe positiver Bestimmtheiten (Bewußtseinsinhalte). Jeder Vorgang, der als »bewußt« charakterisiert wird, ist insofern »Bewußtseinsvorgang«.

Der Begriff »Bewußtsein« wird von verschiedenen Philosophen verschieden bestimmt. Die erste und älteste Bedeutung von Bewußtsein ist die des Wissens um einen Vorgang in uns. Das Bewußtsein wird hier von den Inhalten, deren man sich bewußt ist, als ein besonderes Vermögen der Seele unterschieden.

Der Keim zu dieser Auffassung findet sich schon bei PLATO. Er weist auf das Wissen um ein Wissen (Charmides), auf die Aufnahme der Eindrücke durch die Seele hin, auf deren Erfassen des Gemeinsamen der Dinge durch sich selbst (autê di' hautês hê psychê ta koina moi phainetai peri pantôn episkopein, Theaet. 185 D; vgl. Phileb. 21 B, 24 A; Rep. 508 D). Ähnlich spricht sich ARISTOTELES aus, wenn er dem Gemeinsinn (s. d.) die Fähigkeit zuerkennt, mit dem Gemeinsamen der einzelnen Sinneswahrnehmungen auch wahrzunehmen, daß wir wahrnehmen (aisthanometha hoti horômen kai akouomen, De anim. III 2, 425 b 12). Das Bewußtwerden der Wahrnehmung in der Seele betont ALEXANDER VON APHRODISIAS und nennt es synaisthêsis (Quaest. III, 7). Aber erst bei GALEN erhält der Begriff des Bewußtseins seine bestimmte Prägung im Sinne einer den seelischen Inhalt begleitenden Tätigkeit, eines parakolouthein tê dianoia und einer Erkennung (diagnôsis) organischer Veränderungen in der Seele (Opp. ed. Kühn, 1821 ff.). PLOTIN sieht in dem parakolouthein geradezu das Wesen des Geistes. Das Bewußtsein ist ihm eine reflective Tätigkeit, eine synaisthêsis, ein Zurückbiegen des Gedankens in sich selbst (anakamptontos tou noêmatos). Das Bewußtsein (synesis) ist Tätigkeit, es gleicht einem Spiegel (Enn. I, 4, 10). Erst in der Seele entsteht das Innewerden der Veränderung des Organismus (Enn. IV, 4, 18). Von AUGUSTINUS wird die Bewußtmachung eines Erlebnisses der Tätigkeit des inneren Sinnes zugeschrieben, durch den wir ein Wissen um unser Empfinden gewinnen (De lib. arb. II, 4; De trin. XI). Wie andere Scholastiker faßt THOMAS AQUINAS das Wort »Bewußtsein« (conscientia) als Wissen um etwas auf; »... dicimur habere conscientiam alicuius actus, inquantum scimus, illum actum esse factum vel non factum« (Verit. 17, 1 c). Diese Anschauung findet sich dann wieder bei LOCKE, der in dem inneren Sinn das Bewußtsein der eigenen seelischen Tätigkeit (»the notice which the mind takes of its operations«, Ess. II, ch. 1, § 4) erblickt. Ähnlich lehren CHR. WOLF,[147] BAUMGARTEN, auch KANT (s. Inn. Sinn). Als »Wissen der Seele um sich selbst« definiert das Bewußtsein GUTBERLET (Psychol. S. 167), nachdem auch schon FRIES es als »innere Selbstanschauung des Geistes« (Neue Krit. I, S. 112) bestimmt hatte. TÖNNIES versteht unter Bewußtheit den »Complex von Erkenntnissen und Meinungen, welche einer über den regelmäßigen oder wahrscheinlichen Verlauf der Dinge... vor sich haben und benutzen mag, daher die Kenntnis von den eigenen und fremden, entgegenstehenden (also zu überwindenden) oder günstigen (also zu gewinnenden) Kräften oder Mächten« (Gem. u. Ges. S. 128 f.).

Eine zu den seelischen Erlebnissen hinzukommende Tätigkeit oder Wirkung der Seele ist das Bewußtsein nach LEIBNIZ. Insofern ist es eins mit der Apperception und als »connaissance réflexive de cet état intérieur« eins mit der Beziehung aufs Selbstbewußtsein. Denn die »actes réflexifs nous font penser á ce qui s'appelle moi« (Monad. 30). Anderseits erklärt er, die »petites perceptions« würden einfach durch Zuwachs, Addition, zu bewußten Vorstellungen (»distinguer entre perception et entre s'apercevoir; la perception... devient apperceptible par une petite addition ou augmentation«, Nouv. Ess. II, ch. 9, § 4). Wichtig ist der Begriff der verschiedenen Bewußtseinsgrade, durch den sich die Monaden (s. d.) voneinander unterscheiden, ein Gedanke, der von WUNDT (s. u.) wieder aufgenommen wurde. Mit dem Ich bringt das Bewußtsein in Verbindung auch CLARKE. Als Reflexion des Geistes auf sich faßt HEGEL das Bewußtsein auf. Es ist »Für-sich-sein der freien Allgemeinheit« (Encykl. § 412). »Das Bewußtsein macht die Stufe der Reflexion oder des Verhältnisses des Geistes, seiner als Erscheinung, aus« (l.c. § 413; vgl. § 414). Das Selbstbewußtsein im engeren Sinne aber ist eine Entwicklung des Bewußtseins (§ 424 ff.). Nach BRANISS ist das Bewußtsein die Einheit des Sich-ergreifens und Sich-besitzens (Syst. d. Met. S. 185). Nach K. ROSENKRANZ ist der Begriff des Bewußtseins der »des einfachen Verhältnisses des Geistes zu sich als Subject und Object« (Syst. d. Wiss. S. 406 ff.). Das Bewußtsein ist der Act, »durch welchen der Geist sich als sich zu sich und zu anderem verhaltend für sich setzt«, es ist »reine Tätigkeit des Geistes«, es ist »Übersinnlich« (Psychol.3, S. 266 ff.); es ist ein Act des Sich-unterscheidens des Geistes von allem Nicht-Ich (l.c. S. 270). MAINE DE BIRAN betont: »Le mot conscience ne signifie rien, si on l'entend autrement que se savoir soi avec une modification différente du soi puisqu'il reste quand elle passe« (Oeuvr. inéd. III, p. 397, 405, II, p. 239). Und R. HAMERLING bemerkt, Bewußtsein sei »immer vor allem Selbstbewußtsein. Ein Bewußtsein ohne Selbstbewußtsein ist undenkbar« (At. d. Will. I, 239). »Bewußtsein ist: das Sein als Sich-wissen« (ib.). Schon den Atomen kommt ein Bewußtsein zu (S. 239 f.). Nach CARRIERE ist unser Bewußtsein »kein Zustand, sondern eine sich selbst erfassende und dadurch erzeugende Tätigkeit« (Ästh. I, 42). Nach NATORP ist Bewußtsein eine »Beziehung auf das Ich« (Bewußtheit), eine ursprüngliche Tatsache (Einl. in d. Psychol. S. 11 ff.).

Ein besonderes Vermögen ist das Bewußtsein nach TH. REID und DUGALD STEWART. Nach MAASS ist das Bewußtsein jederzeit von der Vorstellung, deren wir uns bewußt sind, verschieden. LOTZE erklärt das Bewußtsein als »jenes einfache transitive Wissen, welches alle Vorstellungen, Gefühle und Bestrebungen dergestalt durchdringt, daß von ihnen allen ohne dieses Gewußtwerden gar nicht die Rede sein könnte« (Kl. Schr. II, 124). FROHSCHAMMER nennt das Bewußtsein »Empfindung der Empfindung und ihrer Arten«, »das innere Licht oder Leuchten, in welches und durch welches wir in Anschauungen[148] (Sinneswahrnehmungen), Vorstellungen und Begriffen das Obiective, Gegenständliche, das andere uns Gegenüberstehende innerlich nachbilden« (Monad. u. Weltph. S. 39 f.). Es ist der »Zustand der Seele, welcher beharrt, gleichsam stillsteht im wechselnden Strom der Vorstellungen, Gefühle und Willensstrebungen« (Die Phant. S.163). SCHELLING nimmt vor dem Bewußtsein eine Tätigkeit an, »die nicht mehr selbst, sondern nur durch ihr Resultat in das Bewußtsein kommt« und die nichts anderes ist als »die Arbeit des Zu-sich-selbst-kommens, des Sich-bewußt-werdens selbst« (WW. I, 10, S. 93). Nach HEINROTH ist das Bewußtsein »die fortwährende Bestrahlung des Selbst von Lichte« (Psychol. S. 28). Das Ich erzeugt nicht das Bewußtsein, ist schon an dieses gebunden (l.c. S. 29 ff.). Nach FORTLAGE ist das Bewußtsein eine zum Vorstellungsinhalt ganz neu hinzukommende Eigenschaft oder Form (Syst. d. Psych. I, 54, 58 ff., 386; II, 1). Es geht aus einer »Triebhemmung« hervor (l.c. I, 62, 53, 81, 108). J. H. FICHTE bestimmt das eigentliche Geschehen als unbewußt. Das Bewußtsein ist nur eine Eigenschaft, ein Zustand des Geistes, keine ursprüngliche Tätigkeit, es geht aus dem Triebe hervor (Psychol. I, 152 f., 157, 162, II, 39; I, 81 ff., 170, I, 97, 200). Es gibt noch ein zweites, übersinnliches, transcendentales Bewußtsein (I, 97 ff., 533, II, 52). STEINTHAL betrachtet das Bewußtsein als »eine zur Vorstellungstätigkeit der Seele oder zu den gebildeten Vorstellungen hinzutretende Energie der Seele« (Einl. in d. Sprachw. S. 132). E. v. HARTMANN erblickt im Bewußtsein gleichfalls einen secundären Zustand, eine »Erscheinung des Unbewußten« »das Individualbewußtsein ist nach Form und Inhalt unproductiv, rein receptiv und bloß ein passives Product, Begleiterscheinung oder Nebenerfolg unbewußter Vorgänge« (Die mod. Psych. S. 122). Als Bewußtheit hat das Bewußtsein keine Grade (l.c. S. 75 f.). Metaphysisch ist es »die Stupefaction des Willens über die von ihm nicht gewollte und doch empfindlich vorhandene Existenz der Vorstellung« (Phil. d. Unb.3, S. 404). L. NOIRÉ meint: »Das Bewußtwerden geht aus dem Schmerze, aus der Hemmung der Willenstätigkeit hervor« (Einl. u. Begr. e. mon. Erk. S. 195, 198). Daß das Bewußtsein kein ursprünglicher Zustand, sondern Product einer Tätigkeit der Seele sei, betont auch ULRICI (Leib u. Seele 318, 323 f.). – Secundären Charakter hat das Bewußtsein als »Epiphänomenon« bei HUXLEY, MAUDSLEY (Physiol. of mind2, 1876, C. 4), LEWES (The physical basis of mind 1877, C. 4), SERGI, RICHET, DESPINE (vgl. dagegen: FOUILLÉE, L'évol. des idées-forces p. 158 ff.), RIBOT, der es als »surajouté«, als Begleiterscheinung eines Nervenprocesses (Les mal. de la volonté p. 8; vgl. Mal. de la personnal. u. Psychol. Angl.2, p. 423), bestimmt, bei den Vertretern des psychophysischen Materialismus (s. d.), in anderem Sinne auch bei LIPPS (Grundt. d. Seel. S. 30, 356). Auch NIETZSCHE bemerkt: »Das Nervensystem hat ein viel ausgedehnteres Reich: die Bewußtseinswelt ist hinzugefügt« (WW. XV, 263). Das Bewußtsein ist nichts Actives, Schöpferisches, nur ein Mittel zur Lebenssteigerung, ein Überschuß, ein Product des »Willens zur Macht« (WW. XV, 263, 266, 314 f., V, 292). (Dies erinnert an SCHOPENHAUER, für den alles Bewußtsein ein Erzeugnis des »Willens zum Leben« ist.) RIEHL: »Unser bewußtes Leben ist nur ein kleiner Ausschnitt unseres Lebens« (Zur Einf. in d. Phil. S. 160). »Nicht irgend einer einzelnen Energieform... entspricht das Bewußtsein; sein obectives Gegenstück ist eine Structur, der Bau des Nervensystems, genauer, die durch diese Structur ermöglichte, durch sie geleitete Zusammenordnung von Energien« (l.c. S. 159). Der Begriff eines »Atombewußtseins« ist sich selbst widersprechend (ib.). Das Bewußtsein[149] ist entstanden, »ja eigentlich ist es in jedem Augenblick neu entstehend, es ist ein Proceß, eine Activität, kein Sein« (l.c. S. 161). JODL betont gleichfalls den secundären Charakter des Bewußtseins (Lehrb. d. Psych. S. 67, 84, 86 ff.). Es ist eine intermittierende Function (S. 119), keine besondere Qualität, sondern die »Eigenschaft, welche das Wesen der psychischen Phänomene ausmacht« (S. 111). Das allgemeinste Merkmal des Bewußtseins ist »die Innerlichkeit eines lebenden Wesens, welches sich in der Entgegensetzung von Object und Subject oder eines Inhalts und des auffassenden Wesens oder seiner Tätigkeit kundgibt« (S. 91). Zu unterscheiden sind primäre, secundäre, tertiäre Bewußtseinserregungen (S. 139 u. ff.).

Als Eigenschaft des Vorstellungsvermögens, der Vorstellungen selbst wird das Bewußtsein bestimmt von MALEBRANCHE (Rech. III, 2, 7), LOCKE (Ess. II, ch. I, § 9), JAMES MILL (Analys. of the phen. I, p. 224). HUME setzt Bewußtsein und »innerlich vergegenwärtigte Vorstellung« gleich (Treat., übers. von Lipps, Anhang, S. 363.) Nach BONNET ist Bewußtsein ein »sentiment distinct« (Es(s. d.) Psych., ch. 38). Nach HERBART ist Bewußtsein »die Gesamtheit alles gleichzeitigen, wirklichen Vorstellens« (Lehrb. z. Psych. S. 16; Psych. I, § 48). Ähnlich lehren WAITZ (Lehrb. d. Psych. § 57) und VOLKMANN (Lehrb. d. Psych. I4, 169). Nach CLIFFORD ist das Bewußtsein ein Complex von Empfindungen und Reproductionen von solchen (Von d. Nat. d. Dinge an sich S. 39, 42 f.), so auch LOTZE (Med. Psychol. S. 15 ff.), FECHNER (Elem. d. Psychophys. I, 13 f., II, 452 ff.). J. BERGMANN nennt Bewußtsein »jedes Percipieren, jedes Irgendwie-Kunde-nehmen-von-etwas« (Sein u. Erk. S. 145). »Es gehört zur Natur des Bewußtseins, ebnen Inhalt mit mannigfachen und fortwährend wechselnden Unterschieden zu besitzen« (S. 147). – Nach BRENTANO ist Bewußtsein »jede psychische Erscheinung, insofern sie einen Inhalt hat«. Das Gerichtetsein auf ein Object ist dem Bewußtsein wesentlich (Psych. I, 181). A. HÖFLER definiert: »Bewußtsein im ursprünglichen Sinne: 'bewußt-sein' heißt: ein wahrgenommener oder wenigstens wahrnehmbarer psychischer Act sein. – Bewußtsein im zusammenfassenden Sinne... heißt der Inbegriff aller psychischen Erlebnisse je eines Individuums« (Psychol. S. 274). Ein psychischer Vorgang ist bewußt = gewußt, »wenn und insofern er Gegenstand eines Wahrnehmungsurteiles wird« (S. 273).

Als die allgemeinste Eigenschaft aller psychischen Processe, als das ihnen Gemeinsame, als deren Inbegriff sieht das Bewußtsein HORWICZ an (Psych. Analys. III, 3). Bewußtsein bedeutet dreierlei: 1) die Eigenschaft, sich eines Inhalts bewußt werden zu können, 2) einen zeitweiligen Zustand der Bewußtheit eines Inhalts, 3) den Bewußtseinshorizont (I, 156 f.). Nach CZOLBE ist das Bewußtsein »als gemeinsamer Bestandteil der Empfindungen und Gefühle zu betrachten« (Gr. u. Urspr. d. m. Erk. S. 194 f.). VOLKELT bestimmt das Bewußtsein als »eine Mannigfaltigkeit qualitativ verschiedener, empirisch unableitbarer, einfacher seelischer Functionen« (Zeitschr. f. Phil. 112. Bd., S. 237). Nach DESSOIR ist das Bewußtsein im weitesten Sinne ein »Kennzeichen aller seelischen Vorgänge«, im engeren Sinne eine »vorherrschende Synthesenbildung« (Doppel-Ich S. 54). H. CORNELIUS erklärt, Bewußtsein sei ein allgemeiner Ausdruck für die gemeinsame Eigentümlichkeit aller psychischen Tatsachen (Psychol. S. 16). Es gibt nur concrete Bewußtseinsinhalte (ib.). Nach WUNDT besteht das Bewußtsein darin, »daß wir überhaupt Zustände und Vorgänge in uns finden, und dasselbe ist kein von diesen inneren Vorgängen zu trennender Zustand«.[150] Es ist keine Schaubühne, kein geistiger Vorgang neben anderen, sondern ein Ausdruck für die Tatsache, daß wir innere Erfahrungen haben. Eine Vorstellung haben und sie im Bewußtsein haben, ist ein und dasselbe. Bewußtsein ist »das unmittelbare Gegebensein unserer inneren Erlebnisse«. Es ist eine Abstraction von den einzelnen allein wirklichen Vorgängen unserer innern Erfahrung. Im engeren Sinne ist Bewußtsein die »allgemeine Verbindung der seelischen Erlebnisse..., aus der sich die einzelnen Gebilde als engere Verbindungen herausheben«. Dieser Zusammenhang ist teils ein simultaner, teils ein successiver. Es gibt Grade des Bewußtseins. Der »relative Umfang des Bewußtseins« kann experimentell festgestellt werden (Grundr. d. Psych.5, S. 243 ff., Grdz. d. ph. Ps. II4, 254, Vorl.2, S. 253 ff., Ess. 8, S. 208, Eth.2, S. 434 f., Syst. d. Phil.2, S. 558 ff.). Alles Geistige ist bewußt. Das Bewußtsein kommt in verschiedenen Graden der Klarheit (s. d.) überall vor, von dem »Momentanbewußtsein« (s. d.) der einfachsten Wesen an bis zu den höchsten Graden der Apperception (s. d.). KÜLPE versteht unter Bewußtsein (psychologisch) alles, »was von erlebenden Individuen abhängig ist«; es ist die Summe alles Psychischen (Gr. d. Psychol. S. 3). So auch G. VILLA (Einl. in d. Psychol. S. 282, 307 ff.), ähnlich H. SPENCER, BAIN, JAMES (Princ. of Psychol. I, C. 9 u. 10), SULLY, BALDWIN, LADD, HÖFFDING (Psychol. S. 60 ff.). ZIEHEN setzt bewußt und psychisch gleich (Leitfad. d. ph. Ps.4, S. 3 f.). Nach ZIEGLER bezeichnet »Bewußtsein« 1) »den Zustand oder die Eigenschaft des seelischen Vorgangs, wodurch derselbe als bewußter bezeichnet wird – die Bewußtheit, das Bewußtsein, das passive oder... das adjectivische Bewußtsein«, 2) den »Zustand oder die Tätigkeit des Subiects, wodurch der seelische Vorgang seine Eigenschaft erhält, die das Bewußtsein hervorrufende Function des Subiects – Bewußtsein im engeren Sinn, actives Bewußtsein« (D. Gef.2, S. 30). Stufen und Grade des Bewußtseins sind zu unterscheiden. Wie nach WUNDT und HÖFFDING (Psych.2, 431) das Bewußtsein im Grunde Willenstätigkeit ist (s. Wille), so nach ZIEGLER Gefühl (s. d.). W. JERUSALEM nennt Bewußtsein »das Erleben psychischer Phänomene«, »die den verschiedenen psychischen Vorgängen, dem Denken, dem Fühlen, dem Wollen gemeinsamen Züge, die allgemeine Eigenschaft aller psychischen Phänomene« (Lehrb. d. Psych.3, S. 2). Bewußtseinszustand ist »jeder wirklich erlebte psychische Vorgang in seiner vollen individuellen Bestimmtheit und individuellen Färbung«. Bewußtseinsinhalte sind »Gruppen von Objecten, die sich aus der Gesamtheit unserer jeweiligen Erlebnisse leicht hervorheben und durch unsere Aufmerksamkeit isolieren lassen« (S. 2). Drei Entwicklungsstufen des Bewußtseins sind zu unterscheiden: primäre, secundäre, tertiäre Phänomene (S. 26 f.).

Auf die Stärke des erregten seelischen Seins führt das Bewußtsein BENEKE zurück (Lehrb. d. Ps.2, § 57; Neue Psych. S. 171 ff.; Pragm. Psych. I, § 4) E. H. WEBER betont die Wirksamkeit der Aufmerksamkeit zur Bewußtmachung der Empfindungen (Physiol. Wörterb., hrsg. von R. Wagner, S. 487), so auch WUNDT u. a. (s. Aufmerksamkeit, Apperception). – FECHNER nennt das Bewußtsein »ein Sein, das weiß, wie es ist, und ganz so ist, wie es weiß, daß es ist« (Üb. d. Seelenfr. S. 199). Bewußtsein und Unbewußtsein sind nur relativ verschieden (Zendav. I, 282 ff.). Niedere Bewußtseinseinheiten sind in höheren, alle aber in der höchsten Bewußtseinseinheit, Gott (s. d.), eingeschlossen. »Das Bewußtsein der endlichen Geschöpfe ist... eine periodische Function, indem es[151] immer von Zeit zu Zeit mit Unbewußtsein wechselt« (S. 284). Wie HERBART spricht FECHNER von einer Schwelle (s. d.) des Bewußtseins.

Das vereinheitlichende (synthetische) Moment des Bewußtseins betont KANT (nachdem schon PRISCIAN das Bewußtwerden der Empfindung in die vereinheitlichende Zusammenfassung und Zuspitzung, apokoryphôsis, der Einzeleindrücke gesetzt hatte, Siebeck, G. d. Psych. I, 2, 348). Bewußtsein ist »Tätigkeit im Zusammenstellen des Mannigfaltigen der Vorstellung nach einer Regel der Einheit desselben« (Anthrop. I, § 7). Es gibt ein empirisches und ein transcendentales Bewußtsein, das auf der tr. Apperception (s. d.) beruht. »Alles empirische Bewußtsein hat aber eine notwendige Beziehung auf ein transcendentales (vor aller besonderen Erfahrung vorhergehendes) Bewußtsein, nämlich das Bewußtsein meiner selbst, als die ursprüngliche Apperception« (Krit. d. r. V. S. 127 f.; WW. IV, 500). Das »Bewußtsein überhaupt« ist das allgemeine, objective, überempirische, überindividuelle Bewußtsein, das rein erkennende, Einheit setzende, gesetzmäßig verknüpfende Bewußtsein. Bewußtsein heißt bei Kant oft »Gemüt« (Kr. d. r. V. S. 76 u. ö.). Die Einheitsfunction, die synthetische Kraft des Bewußtseins wird nicht bloß von strengen Kantianern, sondern auch von WUNDT, HÖFFDING u. a. (s. Synthese) betont. Nach G. GERBER ist Bewußtsein »die Gesamtheit des von uns Gewußten, sofern es in demselben Augenblick als Einheit vom Ich hervorgebracht wird« (Das Ich, S. 221). SPENCER erklärt: »Bewußtsein haben heißt denken; denken heißt Eindrücke und Ideen zusammenordnen; dieses tun heißt das Subject von inneren Veränderungen sein.« Kein Bewußtsein ohne Veränderung (Psychol. I, § 377). Nach H. v. STEIN ist das Bewußtsein »gleichsam die Fähigkeit, mehreres an einer Stelle zu vereinigen« (Vorles. üb. Ästh. S. 3); es ist »triebartig« (l.c. S. 9). Nach L. BUSSE ist alles Bewußtsein »einheitliches und vereinheitlichendes Bewußtsein«, die einzelnen Vorstellungen sind »nur als einzelne Momente des einheitlichen Bewußtseins möglich und wirklich« (Geist u. Körp. S. 226).

Einige finden das Wesen des Bewußtseins im (beziehenden) Unterscheiden. So zunächst CHR. WOLF: »Wir finden demnach, daß wir uns alsdann der Dinge bewußt sind, wenn wir sie voneinander unterscheiden« (Vern. Ged. von Gott... I, § 729). SULZER bemerkt: »Die Philosophen verstehen durch das Wort Bewußtsein diejenige Handlung des Geistes, wodurch wir unser Wesen von den Ideen, welche uns beschäftigen, unterscheiden und also deutlich wissen, was wir tun und was in uns vorgeht« (Verm. Schr. II, 200). TETENS bestimmt das Bewußtsein (»Gewahrnehmen«) als ein Unterscheiden. »Sich einer Sache bewußt sein, drücket einen fortdauernden Zustand aus, in welchen man einen Gegenstand oder dessen Vorstellung unterscheidet und sich selbst dazu« (Ph. Vers. I; 262 f.). E. REINHOLD setzt das Bewußtsein in das »Bezogenwerden der bloßen Vorstellung auf das Object und Subject« (N. Theor. d. Vorst. II, 32). Der »Satz des Bewußtseins« lautet: »Im Bewußtsein wird die Vorstellung vom Vorstellenden und Vorgestellten unterschieden und auf beides bezogen« (S. 235). Nach CHR. SCHMIDT ist Bewußtsein »das wirkliche Beziehen oder Bezogenwerden einer Vorstellung auf ihr Object und Subject« (Emp. Psych. S. 184). J. G. FICHTE gründet das Bewußtsein auf die Trennung der absoluten Tätigkeit des Ich (s. d.) in Object und Subject (Gr. d. g. Wiss. § 1 ff.). In allem Bewußtsein ist »etwas, dessen man sich bewußt ist, und das nicht das Bewußtsein selbst ist« (Syst. d. Sitt. S. 13). Nach ULRICI ist das Bewußtsein unterscheidende Tätigkeit, insbesondere[152] auch Product der Selbstunterscheidung der Seele von den Objecten (Leib u. Seele S. 293, 318, 323 f.; Log. S. 19).

UPHUES unterscheidet »bewußt werden« und »als bewußt aufgefaßt werden«; ersteres eignet den Sinnesqualitäten, letzteres den Gefühlen (Wahrn. u. Empf. S. 66). »Es gibt Bewußtseinsinhalte, die nicht als Bewußtseinszustände betrachtet werden können. Zu diesen gehören die Sinneseindrücke oder sinnlichen Qualitäten. Sie bilden den Gegenstand der äußeren Wahrnehmung. Die Bewußtseinszustände hingegen, die Gefühle, Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen sind Gegenstand der innern Wahrnehmung« (l.c. S. V). »Bewußtheit« ist das Gattungsmerkmal aller Bewußtseinsvorgänge, »Bewußtsein« meint entweder dies oder Gruppen von Bewußtseinsvorgängen (Psych. d. Erk. I, 127).

Nach E. DÜHRING bestehen die seelischen Vorgänge »in der subjectiven, immer wieder unterbrochenen Einheit nur durch die gedanklich umspannende Zusammenfassung stets wiederholter Reproductionen« (Log. S. 202). K. LANGE sieht im Bewußtsein ein »Zusammenwirken der verschiedenen geistigen Arbeitscentren derart, daß jedes einzelne von ihnen eine Controlle über die anderen ausübt« (We(s. d.) Kunst I, 394).

Nach E. HAECKEL ist das Bewußtsein eine »mechanische Arbeit der Ganglienzellen, und als solche auf chemische und physikalische Vorgänge im Plasma derselben zurückzuführen« (Der Mon. S. 23). M. BENEDICT bestimmt es als eine »eigenartige Umsetzung äußerer physikalischer und innerer biochemischer Kräfte in eine neue... Seelen-Kraft-Leistung« (Seelenk. d. M. S. 34). Nach OSTWALD sind die Bewußtseinserscheinungen Wirkungen oder Eigenschaften der »Nervenenergie« (Vorl. üb. Naturphil.2, S. 382, 393). DU BOIS-REYMOND erklärt die Entstehung des Bewußtseins für ein unlösbares Welträtsel (Grenzen d. Naturerk., Sieben Welträts. Bd. I, 387 f.).

Die Idealisten setzen vielfach Bewußtsein und Sein als eins. Die Dinge (s. d.) sind ihnen nur (actuelle oder potentielle) Bewußtseinsinhalte. So besonders die Immanenzphilosophie (s. d.). SCHUPPE, der im Sein ein Bewußtsein findet, versteht unter letzterem nichts als das unmittelbar Gegebene selbst (Log. S. 23). v. SCHUBERT-SOLDERN erklärt: »Es gibt kein Seiendes, das nicht Bewußtes wäre, und es gibt nichts Bewußtes, das nicht Seiendes wäre« (Gr. e. Erk. S. 7). Bewußtsein ist kein selbständiges Moment, sondern »Gegebensein von Inhalten überhaupt«, es geht in den Dingen völlig auf und kann nur in abstracto von ihnen geschieden werden (S. 72). Sieh eines Datums bewußt sein heißt, »daß eben dieses Datum in irgend einer Beziehung zu jenem... Ich steht« (S. 9). REHMKE nimmt ein absolutes, allumfassendes, concretes, schöpferisches Bewußtsein an, das die für alle Individuen gemeinsame Bewußtseinsform bildet. Alles Psychische ist als solches bewußt (Allg. Psych. 63, 67, 133 ff., 144, 455 ff., 464). Bewußtsein ist »das unmittelbare Seelengegebene«. »Grundmomente« des Bewußtseins sind das Subject und die Inhalte (l.c. S. 49). Es gibt gegenständliches, zuständliches, ursächliches Bewußtsein (l.c. S. 14S ff.). Die Bewußtseinseinheit ist etwas Ursprüngliches (l.c. S. 155, 452 ff.). Auch NATORP und RICKERT sprechen von einem »Bewußtsein überhaupt«. Vgl. Unbewußt, Psychisch, Wissen, Subject.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 146-153.
Lizenz:
Faksimiles:
146 | 147 | 148 | 149 | 150 | 151 | 152 | 153
Kategorien:

Buchempfehlung

Aischylos

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.

114 Seiten, 4.30 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon