Meinung

[651] Meinung (doxa, opinio): eine Art des Fürwahrhaltens, subjectives, nicht sicheres Urteilen, Glauben (s. d.), nicht streng determiniertes, der Möglichkeit des Irrtums bewußtes Urteilen.

Auf bloßen Schein (s. d.) geht die Meinung, doxa, im Unterschiede vom Wissen des Seienden nach PARMENIDES. Auch PLATO unterscheidet die doxa von der epistêmê; erstere ist nur auf die Sinnendinge, das immer Werdende, letztere auf das Seiende gerichtet (Republ. V, 477B, 478A). Die Meinung ist ein Mittleres zwischen Wissen und Nichtwissen (l.c. V, 477 A). Die doxa alêthês hat ihren Wert (Meno 97 E; Theaet. 210A). ARISTOTELES definiert die [651] doxa als tou endechomenou allôs echein (Met. VII 15, 1039b 33). Legô apodeiktikas tas koinas doxas, ex hôn hapantes deiknousin (Met. III 2, 996 b 28 squ.). Die Stoiker bestimmen die doxa als tên asthenê kai pseudê synkatathesin (Sext. Empir. adv. Math. VII, 151; Stob. Ecl. II, 230). CICERO nennt die »opinatio« »imbecillam assensionem« (Tusc. disp. IV, 7). Nach EPIKUR entsteht die doxa oder hypolêpsis (Annahme), welche wahr oder falsch sein kann (je nach dem Zeugnis der Wahrnehmung), durch die Fortdauer der Eindrücke der Objecte in uns (Diog. L. X, 33 f.; Sext. Empir. adv. Math. VII, 211 squ.).

Nach THOMAS ist »opinio« »acceptio id est existimatio quaedam immediatae propositionis et non necessariae« (1 Anal. 44c). Nach BONAVENTURA ist »opinio« »assensio animae generata ex rationibus probabilibus« (In 1. sent. 3, d. 24, 2, 2). – Nach MIRAELIUS ist »opinio« »assensus ex medio seu argumento probabili in illis rebus, quae aliter se habere possunt et in quibus ad utramque partem inclinari potest. Est igitur imperfecta intellectus cognitio« (Lex. philos. p. 756). SPINOZA versteht unter »opinio vel imaginatio« die »cognitio ex signis, ex. gr. ex eo, quod auditis aut lectis quibusdam verbis rerum recordemur« (Eth. II, prop. XL, schol. II). CHR. WOLF bestimmt: »Propositio insufficienter probata est opinio« (Philos. rational. § 602). »Wenn wir einen Satz durch solche Vordersätze herausbringen, von deren Richtigkeit wir nicht völlig überzeugt sind, so heißet unsere Erkenntnis eine Meinung« (Vern. Ged. I, § 384).

KANT erklärt: »Das Meinen oder das Fürwahrhalten aus einem Erkenntnisgrunde, der weder subjectiv noch objectiv hinreichend ist, kann als ein vorläufiges Urteilen (sub conditione suspensiva ad interim) angesehen werden« (Log. S. 100). »Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjectiv als obiectiv unzureichendes Fürwahrhalten« (Kr. d. r. Vern. S. 622; vgl. WW. IV, 347). In Urteilen a priori findet kein Meinen statt (Krit. d. Urt. § 90). Meinungssachen sind immer Objecte möglicher Erfahrung (l.c. § 91). Nach FRIES ist die Meinung »ein Fürwahrhalten nur mit Wahrscheinlichkeit, die Annahme eines vorläufigen Urteils« (Syst. d. Log. S. 421). KRUG definiert: »Das Meinen... beruht auf Gründen, die zwar an sich nicht ungültig, aber doch unzureichend sind, eine vollständige und gewisse Überzeugung hervorzubringen« (Handb. d. Philos. I, 90). »Schwach begründete Meinungen heißen Vermutungen oder Mutmaßungen (coinecturae)« (ib.). HILLEBRAND nennt die Meinung die abstracte Subjectivität, insofern sie sich als die Wahrheit des Begriffs behaupten will, die »Vorstellung, insofern sie sich als Begriff geltend macht« (Philo(s. d.) Geist. II, 68). Nach E. REINHOLD ist das Meinen »ein mehr oder weniger zweifelndes Fürwahrhalten« (Lehrb. S. 173). Nach GUTBERLET ist die Meinung »das Fürwahrhalten eines Satzes, das die Furcht vor Irrtum, oder die Furcht, auch das Gegenteil könne wahr sein, nicht ausschließt« (Log. u. Erk.2, S. 150). Nach WUNDT ist die Meinung ein »objectives Fürwahrhalten«, bei dem die »Sicherheit der Überzeugung« fehlt. »Durch irgend welche obiectiven Zeugnisse werden wir veranlaßt, ein Urteil vorläufig als wahr anzunehmen; aber weder setzt das Meinen einen besondern Grund subjectiver Bevorzugung noch ein solches Gewicht objectiver Gründe voraus, daß kein Zweifel zurückbliebe. Der Meinende fühlt sich subjectiv frei, objectiv ist er zwar bestimmt, aber in keiner Weise zwingend bestimmt« (Log. I, 370). Vgl. Meinen.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 651-652.
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