Motiv

[695] Motiv (von moveo): Beweggrund, Bestimmungsgrund des Handelns, des Wollens. Jedes Motiv besteht in einer gefühlsbetonten Vorstellung oder in einem mit Vorstellung verbundenen GefühleTriebfeder«). Die Motive wirken mit psychischer Causalität (s. d.), nicht mechanisch-zwingend, sie stehen dem Ich, dem Willen nicht äußerlich, fremd gegenüber, sondern sind selbst schon Momente des Wollens. Was Motiv werden kann, hängt ab: 1) von der Umgebung des Ich, 2) von der momentanen Constellation des Bewußtseins, 3) von der Vergangenheit, vom Charakter (s. d.) des Ich, der Persönlichkeit. Bei den Triebhandlungen ist ein Motiv sofort wirksam, bei den Willkürhandlungen gibt es einen »Kampf, Wettstreit der Motive«, aus welchem, nach »Überlegung«, ein Motiv (oder ein Motivencomplex) als »herrschend« hervorgeht. Der Wille folgt dem stärkeren Motive (»Gesetz der Motivation«), aber das »stärkere« Motiv ist schon durch die Natur des Wollenden bestimmt. – Motivation bedeutet Motivierung, Causalität des Motivs.

In verschiedener Weise wird die Motivation vom Determinismus (s. d.) und Indeterminismus (s. d.) aufgefaßt. –

THOMAS AQUINAS erklärt: »Movet intellectus voluntatem non quoad exercitium actus, sed quoad specificationem: voluntas vero omnes potentias movet quoad exercitium actus« (Sum. th. II, 9, 1). Nach DUNS SCOTUS determinieren, »necessitieren« die Motive den Willen nicht, sie »inclinieren« ihn nur für bestimmte Entscheidungen (Op. Ox. I, 17, 2, 3; II, 7, 1; ähnlich später LEIBNIZ).

Nach LOCKE ist das, was den Willen bestimmt, die Seele selbst (Ess. II, ch. 21, § 29). Ein Unbehagen (»uneasiness«), Unlust ist es, was den Willen zur Wirksamkeit veranlaßt (l.c. § 31 ff.). LEIBNIZ erörtert den Kampf der Motive als einen Gegensatz verschiedener Strebungen, welche aus verworrenen und aus deutlichen Gedanken hervorgehen (Nouv. Ess. II, ch. 21, § 35). Als Motive wirken auch unmerkliche Gefühle und Begehrungen nach Befreiung von Hemmungen (l.c. § 36). Nach CHR. WOLF ist das Motiv »ratio sufficiens volitionis ac nolitionis« (Psychol. empir. § 887); es besteht in der Vorstellung des Objects als »bonum ad nos« (l.c. § 889 ff., ähnlich die Scholastiker). Motive sind »die Gründe des Wollens und Nichtwollens« (Vern. Ged. I, § 496). MENDELSSOHN erklärt: »Wenn... die wirksame Erkenntnis [bei einer Handlung] deutlich ist, so werden ihre Wirkungen in das Begehrungsvermögen Bewegungsgründe genannt. Diese Bewegungsgründe haben in der Ausübung nicht selten mit entgegengesetzten Bewegungsgründen, als mit dunklen Neigungen, die wir Triebfedern der Seele genennet haben, zu kämpfen« (WW. II 2, 62 f.). G. E. SCHULZE definiert: »Erkenntnisse und Vorstellungen aller Art, welche das Handeln bewirken, heißen Triebfedern (Beweggrunde, Motive)« (Psych. Anthropol.2, S.425). – Nach HOLBACH sind Motive »les objets extérieurs ou les idées intérieures qui font naître cette disposition [de vouloir] dans notre cerveau« (Syst. de la nat. I, ch. 8, p. 115). Nach J. BENTHAM ist Motiv im weiteren Sinne »any[695] thing that can contribute to give birth to, or even to present, any kind of action«, im engeren Sinne »any thing whatsoever, which, by influencing, the will of a sensitive being, is supposed to serve as a mean of determining him to act, or voluntary to forbear to act, upon any occasion« (Introd. ch. 10, § 1, p. 161 ff.).

SCHOPENHAUER sieht in der Motivation ein Art der Gestaltung des Satzes vom Grunde (s. d.). Der Wille der Lebewesen wird durch Instinct (s. d.) oder durch Motivation bewegt, ohne daß ein absoluter Gegensatz zwischen beiden Bestimmungsgründen besteht. »Das Motiv nämlich wirkt ebenfalls nur unter Voraussetzung eines inneren Triebes, d.h. einer bestimmten Beschaffenheit des Willens, welche man den Charakter desselben nennt: diesem gibt das jedesmalige Motiv nur eine entschiedene Richtung, – individualisiert ihn für den concreten Fall« (W. als W. u. V. II. B., C. 27). »Bei jedem wahrgenommenen Entschluß sowohl anderer, als unser selbst halten wir uns berechtigt, zu fragen: Warum? d.h. wir setzen als notwendig voraus, es sei ihm etwas vorhergegangen, daraus er erfolgt ist, und welches wir den Grund, genauer das Motiv der jetzt erfolgenden Handlung nennen. Ohne ein solches ist dieselbe uns so undenkbar, wie die Bewegung eines leblosen Körpers ohne Stoß oder Zug.« »Die Einwirkung des Motivs... wird von uns nicht bloß, wie die aller andern Ursachen, von außen und daher nur mittelbar, sondern zugleich von innen, ganz unmittelbar und daher ihrer ganzen Wirkungsart nach erkannt. Hier stehen wir gleichsam hinter den Coulissen und erfahren das Geheimnis, wie, dem innersten Wesen nach, die Ursache die Wirkung herbeiführt: denn hier erkennen wir auf einem ganz andern Wege, daher in ganz anderer Art. Hieraus ergibt sich der wichtige Satz: die Motivation ist die Causalität von innen gesehen« (Vierfache Wurzel d. Satz. vom zur. Grunde C. 7, § 43).

Nach LOTZE ist das Trachten nach Festhaltung und Wiedergewinn der Lust und nach Vermeidung der Unlust die »Triebfeder« der praktisch-natürlichen Regsamkeit (Mikrok. II2, 312). v. KIRCHMANN erklärt: »In die Seele treten viele Vorstellungen ein, welche an sich zum Ziele einer Handlung genommen werden könnten; dennoch geschieht dies nicht bei allen. Dies zeigt, daß das bloße Vorstellen und Denken nicht zureicht, das Wollen zu erwecken; sondern daß noch ein anderes hinzutreten muß. Dies ist der Beweggrund. Der Beweggrund kommt nicht aus dem reinen Vorstellen, auch nicht aus dem Begehren, sondern er entspringt aus den Gefühlen« (Grundbegr. d. Rechts u. d. Moral S. 4). Die Motivgefühle sind entweder Gefühle der Lust oder Gefühle der Achtung (l.c. S. 5; vgl. S. 91 ff.). Nach H. HÖFFDING ist Motiv »das durch die Vorstellung vom Zweck erregte Gefühl« (Psichol.2, S. 444). »Die willenserregende Kraft sind in Wirklichkeit immer wir selbst in einer bestimmten Form oder von einer bestimmten Seite« (l.c. S. 471). »Es beruht auf der Beschaffenheit unseres Wesens, ob etwas für uns Motiv werden kann« (ib.). »Die Motive sind nicht nur durch unsere ursprüngliche Natur bestimmt, sondern auch durch unser eigenes früheres Wollen und Wirken« (l.c. S. 472). Nach TH. ZIEGLER ist Motiv das Gefühl (Das Gef.2, S. 277, 320 f.). R. GOLDSCHEID betont: »Nur ein stark gefühlsbetontes Vorstellen vermag den Willen zu beeinflussen, denn nicht die Empfindungselemente in den Vorstellungen sind es, welche den Willen bestimmen, sondern die stets mit den Empfindungselementen verbundenen Gefühlsbetonungen« (Zur Eth. d. Gesamtwill. I, 80 f.). – A. RIEHL betont: »Ein Motiv wirkt gesetzlich, aber nicht unwiderstehlich, es kann durch Gegenmotive aufgehoben werden« (Philos. Kritic. II 2, 232). SERGI versteht[696] unter Motiven »les stimulants à la volition, quand ils sont passées dans la conscience de l'agent sous une forme psychique« (Psychol. p. 419). Nach O. SCHNEIDER ist das Motiv »der erste bewußte Beweggrund oder der unbewußte Anstoß zu unserem Handeln« (Transcendentalpsychol. S. 200). Nach L. DUMONT sind Motive nicht Gefühle, sondern Instincte oder Vorstellungen (Vergnüg. u. Schmerz S. 307). Nach REHMKE ist Motiv des Willens »der ihm vorausgehende praktische Gegensatz« (Allgem. Psychol. S. 406), nach TH. KERRL »der praktische Gegensatz, der besteht zwischen einer Lustvorstellung und jetzt vorhandener Unlust bezw. geringerer Lust« (Lehre von d. Aufmerks. S. 63 f.). Nach R. STEINER sind die Motive des Sittlichen Vorstellungen und Begriffe (Philo(s. d.) Freih. S. 144). Nach E. v. HARTMANN ist der Motivationsvorgang und sein Resultat unbewußt (Philo(s. d.) Unbew. I10, 126 ff.; Mod. Psychol. S. 197). »Was als Motiv wirkt, ist eine Empfindung oder Vorstellung, und zwar ihrem qualitativen Inhalt nach, nicht ihrem Gefühlston nach Welche Vorstellung Motiv wird, welche nicht, hängt vom Charakter des Individuums ab, der allein ihnen ein bestimmtes Maß motivierender Kraft verleiht oder sie erst zu Motiven stempelt« (Mod. Psychol. S. 197 f.; Neukant. S. 196 ff.). »Was durch die motivierende Vorstellung eigentlich beeinflußt wird, ist nicht das Wollen seiner Form nach, welches als Form immer sich selbst gleich ist, sondern sein jeweilig wechselnder Inhalt einschließlich des bestimmten, augenblicklich aufzuwendenden Maßes von Intensität. Da nun der Willensinhalt Vorstellung ist, so ist letzten Endes der Motivationsvorgang eine Beeinflussung von Vorstellung durch Vorstellung, nämlich des jeweiligen Willenszieles durch die jeweilig motivierende Vorstellung« (Mod. Psychol. S. 198; Arch. f. system. Philos. V, 21 ff.). »Wenn Gefühle den Schein erwecken, als ob sie den Willen motivieren, so liegt dabei eine Verwechselung vor; nur die Vorstellung eines künftig zu erlangenden oder abzuwehrenden Gefühls kann Motiv werden« (Mod. Psychol. S. 198). »Reale Gefühle begleiten allerdings häufig den Motivationsvorgang und können dann als Symptom. für seine Lebhaftigkeit dienen; aber sie sind dann nicht Ursache des erregten Willens, sondern Wirkung und Begleiterscheinung desselben, sein Widerschein im Bewußtsein. Sehr oft aber fehlt auch jede Vorstellung künftiger Lust oder Unlust, und es wirken Vorstellungen ganz andern Inhalts als Motive ohne jede bewußte Rücksichtnahme auf Lust und Unlust lediglich nach Maßgabe des Charakters« (ib.; Eth. Stud. S. 155 ff.; Krit. Wander. S. 107 ff.). Nach NIETZSCHE ist das Gefühl kein Motiv, nur Symptom, Folge des Machtwillens. Die eudämonistische Motivation wird bestritten (WW. XV, 262, 302, 305, 307, 309). Die »charakterologische Motivation« (s. d.) lehrt auch R. WAHLE (Das Ganze der Philos. S. 338 ff.). – Motiv ist nach JODL die Vorstellung mit dem Gefühle zusammen (Lehrb. d. Psychol. S. 427). Nach GIZYCKI gehören Beweggrund und Triebfeder zusammen (Moralphilos S. 173). KREIBIG versteht unter Motiv »die lust- oder unlustbetonte Vorstellung, die vermöge dieser Wertqualität den Beweggrund für die Richtung eines Einzelwollens bildet« (Werttheor. S. 72). Es gibt End- und Zwischenmotive (ib.). WUNDT sieht in den Gefühlen die »unmittelbaren« Motive des Willens (Eth.2, S. 437). Motive sind »die in unserer subjectiven Auffassung [des Willensvorganges] die Handlung unmittelbar vorbereitenden Vorstellungs- und Gefühlsverbindungen«. »Jedes Motiv läßt sich aber wieder in einen Vorstellungs- und in einen Gefühlsbestandteil sondern, von denen wir den ersten den Beweggrund, den zweiten die Triebfeder des Willens nennen könnten. Wenn ein Raubtier seine Beute ergreift, so[697] besteht der Beweggrund in dem Anblick der Beute, die Triebfeder kann in dem Unlustgefühl des Hungers oder des durch den Anblick erregten Gattungshasses bestehen« (Gr. d. Psychol.5, S. 221 f.). Eine Vorstellung wird Motiv, sobald sie durch das sie begleitende Gefühl den Willen sollicitiert; die Gefühlsstärke einer Vorstellung ist eins mit ihrer Motivationskraft (Grdz. d. physiol. Psychol. II4, 576; Vorles. üb. d. Mensch.2, S. 247 f.; Ess. 11, S. 299 f.). »Wir nennen alle diejenigen Motive, welche tatsächlich zur Wirksamkeit im Wollen gelangen, die actuellen, diejenigen dagegen, die als gefühlsärmere Elemente des Bewußtseins unwirksam bleiben, die potentiellen« (Eth.2, S. 440). »Insofern ein actuelles Motiv mit der Vorstellung des Effectes der entsprechenden Handlung verbunden ist, heißt es ein Zweckmotiv. Ein solches Zweckmotiv endlich, welches den Endeffect der Handlung in der Vorstellung anticipiert, heißt Hauptmotiv, im Unterschiede von den Nebenmotiven« (l.c. S. 440). Die sittlichen Motive zerfallen in Wahrnehmungs-, Verstandes-, Vernunftmotive (l.c. S. 510). Die imperativen Motive sind impulsiv wie alle Motive, aber »sie verbinden sich mit der Vorstellung, daß sie allen andern bloß impulsiven Motiven vorgezogen werden müssen« (1. G. S. 484 f.). Die Quellen dieser Motive sind: äußerer, innerer Zwang, dauernde Befriedigung, Vorstellung eines sittlichen Lebens (l.c. S. 486). Es sind Imperative des Zwangs und der Freiheit zu unterscheiden (l.c. S. 487 ff.). – Nach LIPPS ist (ähnlich wie nach GREEN) das Motiv »nichts anderes als der Gedanke an den Endzweck« (Eth. Grundfr. S. 8). Nach UNOLD ist Motiv nicht allein das Gefühl, sondern auch die Vorstellung (Gr. d. Eth. S. 186). Nach WENTSCHER sind Motive frühere, unter Zuhülfenahme von uns vollzogene Willensentscheidungen, wenn sie im Augenblick der Reflexion über das gegenwärtig einzuschlagende Verhalten wiederkehren und unsere Entscheidung beeinflussen (Eth. I, 253). Sie sind eigene Geschöpfe des Willens. Entscheidung ist die active Stellungnahme des Subjects gegenüber den Motiven, sie gibt ihnen die genügende Motivkraft (l.c. S. 256 f.). Nach H. SCHWARZ ist jeder Act des Gefallens und Mißfallens Motiv und hat ein Motiv (Psychol. d. Will. S. 240). Das Motiv ist 1) Willensregung, 2) Wertvorstellung. Kampf der Motive ist »das Verhältnis, in das zwei gleichzeitige Willensregungen (Antriebe) eintreten, wenn das Handeln nach der einen das nach der andern ausschließt. Sie concurrieren, wenn sie uns umgekehrt zum gleichen Handeln bewegen« (l.c. S. 240 f.). »Es ist... falsch, daß zwei oder mehr Vorstellungen mechanisch wie Winde die Wetterfahne des Willens drehen« (l.c. S. 244 f.). Das »Motivgesetz« ist das »erste Naturgesetz des Willens«, daß nämlich »gewisse Anstöße auf gewisse Seiten des wollenden Ich wirken müssen, damit Willensrichtungen entstehen« (l.c. S. 78). »Es schreibt uns vor, was wir wert und unwert halten müssen, was gefällt und mißfällt: daher könnte es auch Wertgesetz heißen« (l.c. S. 78). Ein »Motivwandel« findet statt, »wenn wir allmählich anfangen, Handlungen, die wir früher aus irgend einem älteren Motiv getan hatten, aus einem neuen zu tun, und darüber das alte hintanzusetzen oder zu vergessen« (l.c. S. 203 ff.). Es gibt einen fortschreitenden und einen rückschreitenden Motivwandel (egoistisch-altruistisch, altruistisch-egoistisch) (l. e. S. 208 ff., 221). Nach EHRENFELS ist der Motivenkampf ein specieller Fall der gelungenen oder sistierten allmählichen Ausbildung des Wunsches zum Streben oder Wollen (Syst. d. Werttheor. I, 232). Motivationsgesetz ist das Gesetz der relativen »Glücksförderung« (s. d.). Vgl. Motivverschiebung, Heterogonie der Zwecke, Ethik, Willensfreiheit.[698]

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 695-699.
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