[415] Speculation (speculatio, theôria): Betrachtung, Anschauung, geistiges, denkendes Schauen, schauendes Denken, sei es das mystische, phantasiemäßige Betrachten des anscheinend in der Innenwelt sich manifestierenden Übersinnlichen, oder sei es die philosophische (durch »Geistesblick«) die Wesenheiten der Dinge concipierende und begrifflich construierende, zugleich mit logischer Phantasie die Erfahrungsinhalte zur Einheit eines Gedankensystems verknüpfende Geistestätigkeit. Alles Denken, welches aus ihren Principien die Tatsachen der Welt und des Geistes zu begreifen, abzuleiten sucht, welches Einheit und Zusammenhang in den Complex der Dinge bringen will, ist speculativ. Im engeren Sinne ist die metaphysische Speculation das Forschen nach dem Überempirischen.
Als theôria, intuitives Erkennen (auch der Gottheit eigen) tritt der Begriff der, Speculation bei ARISTOTELES auf (Met. VI 1, 1025 b 18. IX 8, 1050 a 10. De an. II 1, 412 a 11. vgl. Dialektik: Plato), als intellectuale Anschauung (s. d.) bei den Neuplatonikern und vielen Mystikern (s. d.). So spricht SCOTUS ERIUGENA von einer »intellectualis visio«, einem »intuitus gnosticus« (De div. nat. II, 20). »Scientiae speculativae« sind bei den Scholastikern die theoretischen Disciplinen (ALBERTUS MAGNUS, ROGER BACON u. a.. vgl. Prantl, G. d. L. III, 90, 122). Nach THOMAS ist »speculativ« ein »videre causam per effectum« (Sum. th. II. II, 180, 3 ad 2).
BOVILLUS erklärt: »Proprii intellectus actus sunt hi: specierum acquisitio, earum in memoria depositio et in eadem speculatio« (De intell. 7, 7). Nach GOCLEN ist der Intellect »speculativus«, »qui ex principiis theoreticis elicit epistêta, id est conclusionem ad sciendum: et quidem etiam bonum contemplatur, qua est verum« (Lex. philos. p. 248). MICRAELIUS bemerkt: »Speculatio, Graecis theôria, in genere est consideratio rei secundum suas causas et effecta,« im engeren Sinne ist es »contemplatio« (Lex. philos. p. 1015). Speculativ im Sinne von theoretisch bei F. BACON (De dignit. III, 3).
TETENS bemerkt: »Der gemeine Verstand arbeitet ohne Hülfe der Speculation. Die Vernunft speculiert aus Begriffen, die sie deutlich entwickelt« (Philos. Vers. I, 571). KANT bestimmt: »Eine theoretische Erkenntnis ist speculativ, wenn sie auf einen Gegenstand oder solche Begriffe von einem Gegenstande geht, zu welchem man in keiner Erfahrung gelangen kann. Sie wird der Naturerkenntnis entgegengesetzt, welche auf keine anderen Gegenstände oder Prädicate derselben geht, als die in einer möglichen Erfahrung gegeben werden können« (Krit. d. r. Vern. S. 497). »Die Erkenntnis des Allgemeinen in abstracto ist speculative Erkenntnis. – die Erkenntnis des Allgemeinen in concreto gemeine Erkenntnis. Philosophische Erkenntnis ist speculative Erkenntnis der Vernunft« (Log. S. 29. vgl. S. 135). FRIES versteht unter Speculation »die regressive Methode, durch welche wir uns der apodiktischen allgemeinen Gesetze, also der reinen Vernunfterkenntnisse, bewußt werden« (Syst. d. Log. S. 557). Nach BOUTERWEK ist Speculation besonders die »Betrachtung der Wahrheit selbst und ihres Verhältnisses zum Wesen der Dinge« (Lehrb. d. philos. Wissensch. I, 13).
Als intellectuelle Intuition (s. d.) tritt die Speculation bei SCHELLING auf. Sie geht auf das Absolute, »verlangt das Unbedingte« (Vom Ich, S. 26). HEGEL versteht unter Speculation die vernünftige, dialektische (s. d.) Ableitung der Wirklichkeit ans dem Begriff. »Das Speculative oder Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das [415] Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihrem Übergehen enthalten ist« (Encykl. § 82). Die speculative Wissenschaft macht das Allgemeine der andern Wissenschaften zu ihrem eigenen Inhalte, führt zugleich andere Kategorien ein (l. c. § 9). Nach J. E. ERDMANN ist die Intelligenz speculativ, insofern »der Begriff (das Begreifen) sich in den Objecten tanquam in speculo wiedererkennt und sich als alle Wirklichkeit weiß« (Grundr. § 723). SCHLEIERMACHER bestimmt das, »speculative Wissen« als »ein Wissen mit dominierender Begriffsform, wobei das Urteil nur als conditio sine qua non erscheint« (Dialekt. S. 130). SCHASLER bemerkt: »In der Speculation ist... ein dreifacher Proceß...: die unmittelbare Intuitivität, das logisch-notwendige Denken, was wir Reflexion nennen können, und die vermittelte Intuitivität« (Kr. Gesch. d. Ästhet. S. 942). – HERBART erklärt: »Herausschaffung des Widerspruchs ist der eigentliche Actus der Speculation. Und Speculation im strengen Sinne ist der willkürlose Gang des zur Umwandlung vordringenden Gedankens« (Hauptp. d. Met. S. 7). »Die Speculation sucht Beziehungen, notwendigen Zusammenhang« (l. c. S,. 24). Jede Speculation »sucht eine Construction von Begriffen, welche, wenn sie vollständig wäre das Reale darstellen würde, wie es dem, was geschieht und erscheint, zum Grunde liegt« (Met. II, § 163). ULRICI bestimmt die Speculation als das productive, ergänzende Schauen, Herausschauen der Welteinheit und das Ordnen und Ergänzen der Erfahrungen von dieser Einheit aus (Glaube u. Wiss. S. 292). Nach TEICHMÜLLER ist bei der philosophischen Speculation das Interesse »den bei Auffassung und Beurteilung des Wirklichen erkannten Ideen, die mit den ihnen zugeordneten Coordinatensystemen eine eigene Welt für sich bilden« zugewandt (Neue Grundleg. S. 297). JOËL bemerkt: »Die Welt durchschauen im Denken – das ist die vielgeschmähte Speculation«. (Philosophenwege 1901, S. 292). – Nach E. DÜHRING bedeutet Speculativ »durch bloße Denknotwendigkeit« (Wirklichkeitsphilos. S. 261). R. WAHLE: bemerkt: »Menschliches Raisonnement verdient eigentlich erst dann den Namen einer Speculation, wenn es darauf ausgeht, eine Tatsache als die Function exact bestimmter Factoren in ihrer exact bestimmbaren Wechselwirkung aufzufassen. Diese Speculation erfolgt nur mittelst mathematischen Denkens« (Das Ganze d. Philos. S. 5). Vgl. Anschauung, Intuition, Philosophie.