[762] Differentialgleichungen der Bewegung.
Sind x, y, z die rechtwinkligen Koordinaten eines Punktes M als Funktion der Zeit t gegeben, so stellen deren erste Differentialquotienten nach t die Komponenten seiner Geschwindigkeit v und die zweiten Differentialquotienten derselben die Komponenten seiner Beschleunigung φ dar; die Masse m des Punktes, multipliziert mit den ersteren, gibt die Komponenten der Momentankraft mv, multipliziert mit den letzteren die Komponenten der beschleunigenden Kraft mφ. Sind umgekehrt die Komponenten X, Y, Z der beschleunigenden Kraft gegeben, so nennt man die Gleichungen:
gewöhnlich die Differentialgleichungen der freien Bewegung des Punktes. Darin können die Größen X, Y, Z aber t, x, y, z, dx/dt, dy/dt, dz/dt enthalten; auch ist es nicht notwendig, daß diese Gleichungen in der hier vorliegenden aufgelösten Form gegeben sind, vielmehr nennt man im allgemeinen drei Gleichungen zwischen t, x, y, z, dx/dt, dy/dt, dz/dt, d2x/dt2, d2y/dt2, d2z/dt2 die Differentialgleichungen (zweiter Ordnung) der Bewegung eines Punktes. Die Integration eines solchen Systems simultaner Differentialgleichungen führt zur Kenntnis der durch sie definierten Bewegung des Punktes; ihre drei ersten Integrale liefern, da sie nur erste Differentialquotienten enthalten, die Komponenten der Geschwindigkeit, ihre zweiten Integrale, die frei von allen Differentialzeichen sind, die Koordinaten des Punktes, durch die Zeit ausgedrückt. Ihre Integration führt sechs Konstanten ein, die dadurch bestimmt werden können, daß die Werte der; Komponenten der Geschwindigkeit und die der Koordinaten für irgend eine Zeit, z.B. für t = 0 bekannt sind. Ist der Punkt nicht frei, sondern gezwungen, auf einer Kurve oder Fläche zu bleiben, so müssen x, y, z außer den Gleichungen der Bewegung den Gleichungen der Kurve oder der Fläche genügen. In diesem Falle werden die Differentialgleichungen der Bewegung mittels des D'Alembertschen Prinzips (s. Prinzip) aufgestellt. Die Bedingungen können durch Beschleunigungen (Druckbeschleunigungen, Spannungsbeschleunigungen u.s.w.) oder Kräfte (Drucke, Spannungen, Widerstände u.s.w.) ersetzt werden. Indem man andre Koordinaten als die Parallelkoordinaten x, y, z verwendet, nehmen die Bewegungsgleichungen von den obigen verschiedene Formen an.
Mittels des D'Alembertschen Prinzips lassen sich auch die Gleichungen der Bewegung eines Systems von n Massenpunkten, das k gegebenen Bedingungen genügt, aufstellen. Sie bestehen aus 3n Differentialgleichungen zweiter Ordnung und so vielen meist endlichen Gleichungen, als Bedingungen vorhanden sind. In die Integrale gehen 6n 2k Konstanten ein, die durch Anfangslage und Anfangsgeschwindigkeit der Systempunkte bestimmt sind. Durch Einführung passender Koordinaten lassen sich etwa vorhandene endliche Bedingungsgleichungen identisch erfüllen, und die Bewegungsgleichungen reduzieren sich auf 3n k Differentialgleichungen zweiter Ordnung.
Besteht ein Massensystem aus unendlich vielen Punkten, wie z.B. ein starrer Körper, so hängt der Charakter der Bewegungsgleichungen davon ab, wieviel Freiheitsgrade (s.d.) das System hat. Ist die Anzahl der Freiheitsgrade endlich, so kann bei Einführung passender Koordinaten auch die Bewegung eines solchen Systems von ebensoviel Differentialgleichungen zweiter Ordnung abhängig gemacht werden, als Freiheitsgrade vorhanden sind. Es seien q1, q2 ... qµ die voneinander unabhängigen Variabeln (heue Koordinaten), von denen die rechtwinkligen (ursprünglichen) Koordinaten der Massenpunkte abhängig sind, z.B. x1 = f (q1 ... qµ). Die Aenderungsgeschwindigkeit x' = dx/dt ist dann eine homogene lineare Funktion der Aenderungsgeschwindigkeiten q1' = dq1/dt ... qµ' = dqµ/dt, nämlich:
Die lebendige Kraft T wird eine homogene quadratische Funktion der q1' ... qµ', weshalb man
schreiben kann. Führt man in den[762] Ausdruck der Elementararbeit L die neuen Koordinaten ein und setzen wir voraus, daß eine Kräftefunktion U existiert, so wird:
Die Veränderung der lebendigen Kraft T berechnet sich unter Berücksichtigung des Umstandes, daß T von den q1 ... qµ und q1' ... qµ' abhängt, folgendermaßen:
Nun ist aber wegen
auch:
Durch Subtraktion der Gleichungen für 2 d T und d 7 und Ersetzung der q1' ... qµ' durch dq1/dt ... dqµ/dt folgt:
was nach dem Satz von der Erhaltung der Kraft gleich d L sein muß. Da die so erhaltene Gleichung für alle Veränderungen dq1 ... dqµ der voneinander unabhängig vorausgesetzten neuen Koordinaten gelten muß, zerfällt sie in µ verschiedene Gleichungen:
Das sind die Lagrangeschen Bewegungsgleichungen zweiter Art, die bei einer endlichen Zahl von Freiheitsgraden unter Voraussetzung einer Kräftefunktion gelten.
Beispiel. Ein starrer Körper von der Masse M drehe fleh. um eine Achse, von der zwei Punkte in der Entfernung a + b auf den Koordinatenachsen fortrücken. Der Schwerpunkt S des Körpers möge auf der Drehachse liegen; weitere Kräfte sollen nicht wirken (U = 0). Es sollen die Differentialgleichungen der Bewegung aufgestellt werden. Das System hat zwei Freiheitsgrade: die Drehung um die Achse durch den Winkel q1 und die Bewegung der Achse selbst, die durch den Winkel q2 den sie mit der X-Achse einschließt (s. die Figur), festgelegt wird.
Die lebendige Kraft T des Körpers setzt sich aus der lebendigen Kraft der Bewegung des Schwerpunktes und der lebendigen Kraft der Bewegung um den Schwerpunkt zusammen.
Erstere M/2 (a2sin2q2 + b2cos2q2) q2'2. Die Bewegung um den Schwerpunkt setzt sich aus einer Drehung um die Achse A B mit der Winkelgeschwindigkeit q1' und einer Drehung um eine in S zur Papierebene senkrechte Achse mit der Winkelgeschwindigkeit q2' zusammen. Sind die zu den Achsen gehörigen Trägheitsmomente J1 und J2 so wird die gesamte lebende Kraft:
T = 1/2 (M (a2 sin2q2 + b2 cos2q2) q2'2 + J1q1'2 + J2q2'2).
Die Differentialgleichung für die Bewegung werden daher in diesem Falle:
dJ1q1'/dt = 0 und d/dt {(M (a2 sin2 q2 + b2 cos2 q2) + J2) q2'} M(a2 b2) sin q1 cos q2q2'2 = 0.
Oder an Stelle der zweiten Gleichung:
2 {(M (a2 sin2 q2 + b2 cos2 q2) + J2) q2'} M(a2 b2) sin q2 cos q2q1' = 0.
Aus der ersten Gleichung folgt q1' = C1 oder q1 = C1t + C2, worauf sich aus der zweiten t als Funktion von q2 ausdrücken läßt.
Die Differentialgleichungen der Bewegung eines freien (oder auch eines in einem Punkte gestützten) starren Systems werden zumeist in einer von Euler eingeführten Form abgeleitet, bei der zunächst die Koordinaten x, y, z des Schwerpunktes und dann die drei Komponenten p, q, r der Winkelgeschwindigkeit um den Schwerpunkt als Funktionen der Zeit gesucht sind. Letztere sind keine Koordinaten im Sinne der Lagrangeschen Differentialgleichungen zweiter Art, die daher nicht unmittelbar angewendet werden können. Am einfachsten findet man die Eulerschen Differentialgleichungen durch Anwendung der beiden Prinzipien des Schwerpunktes und der Flächen. Für ein freies System sagt das erstere aus, daß der Schwerpunkt Geh so bewegt, wie wenn die Gesamtmasse M in ihm vereinigt wäre und die Resultante der äußeren Kräfte mit den Komponenten ΣX, ΣY, ΣZ an ihm angriffe. Daher die drei Gleichungen:
Das Flächenprinzip sagt aus, daß die Geschwindigkeit, mit der sich das Achsenmoment der Bewegungsgröße ändert, gleich dem Achsenmoment der wirkenden äußeren Kräfte ist. Sind A, B, C die drei Hauptträgheitsmomente durch den Schwerpunkt, p, q, r die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit um den Schwerpunkt, bezogen auf die drei Hauptträgheitsachsen, und L, M, N die Komponenten des Achsenmomentes der äußeren Kräfte, auf dieselben Achsen bezogen, so sind Ap, Bq, Cr die Komponenten des Achsenmomentes der Bewegungsgröße in bezug auf das bewegliche System der Trägheitsachsen; A(dp/dt), B(dq/dt), C(dr/dt) sind die Aenderungsgeschwindigkeiten dieses Achsenmomentes im gleichen System. Hierzu hat noch die Führungsgeschwindigkeit (s. Bewegung, relative, Bd. 1, S. 768) des Punktes mit den Koordinaten [763] Ap, Bq, Cr im beweglichen System zu treten, um die absolute Aenderungsgeschwindigkeit, die das Flächenprinzip verlangt zu erhalten. Die Komponenten der Führungsgeschwindigkeit sind: (C B)qr, (A C)rp, (B A)pq, daher die drei letzten Eulerschen Gleichungen für die Bewegung um den Schwerpunkt:
Euler hat als Koordinaten des beweglichen Systems in bezug auf das feste drei Winkel φ, ψ, ϑ eingeführt, welche die Lage des beweglichen Systems bestimmen. Zieht man durch den Massenmittelpunkt S drei Achsen parallel den festen Achsen der x, y, z, so bezeichnet ϑ den Winkel der Ebenen der xy und x'y' oder also den Winkel der Achsen z, z'; die Schnittlinie dieser beiden Ebenen SK wird die Knotenlinie k dieser Ebenen genannt. Der Winkel ψ ist der Winkel (k, x) dieser Linie mit der x-Achse und φ der Winkel (k, x'), den sie mit der x'-Achse bildet. Die Komponenten p, q, r von ω drücken sich leicht durch die Differentialquotienten von φ, ψ, ϑ mit Hilfe folgender Formeln aus:
Mit Hilfe derselben werden die Eulerschen Gleichungen zu drei Differentialgleichungen zweiter Ordnung zwischen φ, ψ, ϑ und t. Die sechs Gleichungen der Bewegung bestehen daher zwischen x1, y1, z1; φ, ψ, ϑ, t, und ihre Integration führt 12 Konstanten ein, die durch die Anfangswerte der Koordinaten des Massenmittelpunkts und der Eulerschen Winkel in Verbindung mit den Anfangswerken von deren Differentialquotienten, nämlich den Anfangswerken der Komponenten der Geschwindigkeit von S und der Komponenten der Winkelgeschwindigkeit ω bestimmt werden können.
Hat das Massensystem keine endliche Zahl von Freiheitsgraden mehr, sondern eine unendlich große wie bei Flüssigkeiten oder elastischen Körpern, so reicht ein simultanes System von gewöhnlichen Differentialgleichungen zur Bestimmung der Bewegung nicht mehr aus, man wird vielmehr auf partielle Differentialgleichungen geführt.
Bei der Bewegung eines kontinuierlichen Massensystems entstehen in allen seinen Punkten Formänderungen, die für kleine Bereiche durch eine affine Deformation (s.d.) dargestellt werden können. Sechs Größen, nämlich z.B. die Dehnungen in den drei Koordinatenrichtungen und die Aenderungen der drei rechten Winkel derselben bestimmen die Formänderung an einer Stelle. Durch die Formänderung wird in dem Massensystem ein Spannungszustand geweckt, der ebenfalls durch sechs Größen, z.B. die Druckspannungen in den drei Koordinatenrichtungen und die Schubspannungen in den Koordinatenebenen bestimmt wird. Die Spannungen werden als lineare Funktionen der Formänderungen angesetzt. Die Abhängigkeit der Spannungen von den Formänderungen ist für die Art des Massensystems (ob tropfbarflüssig oder elastisch u.s.w.) charakteristisch.
Die durch eine bestimmte Formänderung geweckten Spannungen wirken auf die Begrenzung eines Volumelementes ein, und diese Einwirkungen müssen zusammen mit dem Gewicht des Volumelementes nach dem D'Alembertschen Prinzip der aus Masse und Beschleunigung gerechneten Massenkraft gleich sein. Auf diesem Gedankengang beruht die Ableitung der Bewegungsgleichungen für kontinuierliche Massensysteme. Für elastische Systeme mögen η ζ ξ Verschiebungen eines Punktes mit den Koordinaten in der Ruhelage x y z bezeichnen; es sei ferner µ die Dichte (spezifische Masse), 1/m die Poissonsche Konstante (zwischen 1/4 und 1/3 gelegen), E der Elastizitätsmodul und G = mE/2(m + 1) der Schubelastizitätsmodul, ferner
(spezifische Volumänderung) und Δ der Laplacesche Operator
so lauten die partiellen Differentialgleichungen der Bewegung elastischer Systeme:
X, Y, Z sind dabei die auf die Volumeinheit bezogenen äußeren Kräfte, die sich bei Annahme der Schwerkraft auf X = 0, Y = 0, Z = µg reduzieren. Die Ableitung dieser Gleichungen beruht auf der Gültigkeit des Hookeschen Gesetzes von der Proportionalität der Spannungen und Dehnungen. Die wichtigsten Untersuchungen über die Differentialgleichungen der Bewegung verdankt man Jacobi(Vorlesungen über Dynamik, Berlin 1866) und Helmholtz. Ausführliches u.a. bei Routh, Die Dynamik der Systeme starrer Körper, 2 Bde., Leipzig 1898.
Finsterwalder.
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