Ethische Bewegung

[139] Ethische Bewegung. Seit den 1860er Jahren zeigt sich in Nordamerika, England und Deutschland mehr oder minder lebhaft das Streben, die Ethik von der Religion möglichst loszulösen und sie selbständig zu machen. Die Bewegung hat in Nordamerika angefangen und hängt mit unitarischen Bestrebungen zusammen. Es wurde eine Free Religious Association gebildet, später entwickelten sich daraus eine Anzahl Societies for Ethical Culture, wobei es vornehmlich darauf ankam, daß der Glaube an den persönlichen Gott nicht verlangt wurde. Nachdem in London eine solche Vereinigung gegründet worden war, bildete sich in Berlin namentlich unter Leitung des Professors der Astronomie Förster und des Professors der Philosophie Georg v. Gizycki die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur, an die sich Unterabteilungen in andern deutschen Städten angliedern sollten, auch z. T. angegliedert haben. Diese Gesellschaften setzen sich besonders zum Zweck die Pflege ethischer Kultur, die man bestimmt als einen Zustand der Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Menschlichkeit und gegenseitiger Achtung, und zwar soll diese Pflege hauptsächlich durch Unterricht stattfinden, der keine Rücksicht nimmt auf die spaltenden religiösen Dogmen. In dieser Richtung sind besonders in Amerika begeisterte Anhänger der ethischen Kultur tätig gewesen. Als solche sind hervorzuheben: William Mackintire Salter, der sich namentlich durch seine Vorlesungen über »Die Religion der Moral« (deutsch von G. v. Gizycki, Leipz. 1885) bekannt gemacht hat. Er geht von Kant aus, betont sehr stark dessen Pflichtbegriff, setzt aber an Stelle der Religion, die so gut wie aufgehoben wird, die Ausübung der Menschenliebe; F. Adler, der über »Moralunterricht der Kinder« (übersetzt von G. v. Gizycki, Berl. 1894) geschrieben hat; der Engländer Stanton Coit, von dem »Die ethische Bewegung in der Religion« (deutsch von G. v. Gizycki, das. 1890) herrührt. In Deutschland sind für diese Richtung vor andern tätig außer den beiden schon oben genannten: der Sohn des Professors Förster, F. W. Förster, August Döring, Ferdinand Tönnies, Friedr. Jodl, Theobald Ziegler, Johannes Unold, ohne in ihren Zielen recht einig zu sein. Auch ist die ganze Bewegung in den letzten Jahren, namentlich nach dem Tode Gizyckis (1896), in Abnahme, was damit zusammenhängen mag, daß die sozialen Fragen mehr und mehr in den Vordergrund treten. Von Zeitschriften treten für die e. B. ein: die »Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur« (Berl. 1894–95) und die »Ethische Kultur. Wochenschrift für sozial-ethische Reformen«, nach dem Tode des ersten Herausgebers, v. Gizycki, weiter redigiert von F. W. Förster, später von Penzig und Kronenberg. In Amerika ist die Richtung vertreten durch die Zeitschriften: »The Open Court«, »The Monist«, auch durch »International Journal of Ethics«. Vgl. Keibel, Die Religion und ihr Recht gegenüber dem modernen Moralismus (Halle 1891); Brasch, Die Ziele der ethischen Bewegung (Leipz. 1893); Moulet, Le mouvement éthique (deutsch von Penzig: »Pioniere des sittlichen Fortschritts«, Berl. 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 139.
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