Trägheitsmoment [1]

[594] Trägheitsmoment eines Punktes von der Masse m in bezug auf einen Punkt O (polares T.), eine Ebene s (planares T.) oder eine Achse h (axiales T.) heißt das Produkt mp2, mq2 oder mr2 aus der Masse m und dem Quadrate des Abstandes p, q, r des Punktes von O, ε oder h. Trägheitsmoment eines Punktsystems in bezug auf O, ε oder h heißt die Summe Σmp2, Σmq2 oder Σmr2 der Trägheitsmomente aller Punkte des Systems. Drei Längen σ, ι, κ der Art, daß σ2Σm = Σmp2, ι2Σm = Σmq2, κ2Σm = Σmr2 ist, heißen der Trägheitsradius des Massenpunktsystems in bezug auf den Punkt O, die Ebene ε oder die Achse h. σ, ι, κ sind der Radius einer Kugel um O, der Abstand einer Ebene von e und der Radius eines Zylinders um h, auf welchen die Masse des Systems beliebig verteilt gedacht, dieselben Trägheitsmomente besitzt, wie das System selbst. Geht die Achse h durch O hindurch und steht die Ebene ε in O senkrecht auf h, so ist p2 = q2 + r2 mithin Σmp2 = Σmq2 + Σmr2, und folglich ist σ2 = ι2 + κ2. Sind daher zwei von den drei Trägheitsmomenten eines Punktsystems bekannt, so kann das dritte gefunden werden. Das wichtigste Trägheitsmoment ist das axiale. Mit dem halben Quadrat der Winkelgeschwindigkeit multipliziert gibt es die lebendige Kraft eines starren Massensystems bei Drehung um die Achse.

Die Aufgabe, die Trägheitsmomente eines Punktsystems für alle Punkte, Ebenen und Achsen des Raumes zu finden, kann durch Zurückführung auf die Aufgabe gelöst werden, die Trägheitsmomente für den Massenmittelpunkt, alle Ebenen und Achsen desselben zu bestimmen. Ist nämlich p der Abstand der Masse m eines Punktes vom Massenmittelpunkte S, p' sein Abstand von einem Punkte O und S O = δ, so wird p'2 = p2 2 2 p δ cos (p δ) und mithin Σmp'2 = Σmp2 + δ2 · Σm – 2 δ Σmp cos (p δ) und da p cos (p δ) der Abstand x der Masse m von einer auf δ senkrechten, durch S gehenden Ebene und mithin das Moment ersten Grades des Systems in bezug auf diese Ebene des Massenmittelpunktes, nämlich Σmxz = 0 ist, so wird Σmp'2 = Σmp2 + Mδ2, wenn M die Gesamtmasse des Systems ist, d.h. das (polare) Trägheitsmoment eines Systems in bezug auf einen Punkt O wird aus dem polaren Trägheitsmoment für den Massenmittelpunkt S gefunden, indem man zu diesem das Trägheitsmoment 2 der Gesamtmasse, im Massenmittelpunkt vereinigt gedacht, in bezug auf O addiert. Ebenso ist, wenn δ den Abstand einer Ebene ε' von der ihr parallelen Ebene ε des Massenmittelpunktes bedeutet, Σmq' = Σmq2 + Mδ2 und wenn δ der Abstand einer Achse h' von der parallelen Achse h durch S bezeichnet Σmr'2 = Σmr2 + Mδ2, wo q' und r' sich auf ε' und h' beziehen. Man zeigt leicht, daß das Trägheitsmoment für eine Achse h des Massenmittelpunkts S (öder auch eines andern Punkts O), wenn man diesen als Ursprung eines rechtwinkligen Koordinatensystems der x, y, z ansteht, mit dessen Achsen die Achse h die Winkel α, ß, y bildet, unter der Form dargestellt werden kann:

Σmr2 = A cos2 α + B cos2ß + C cos2 γ – 2 D cos ß cos γ – 2 E cos γ cos α – 2 F cos α cos ß,

wo die drei ersten Koeffizienten A = Σm (y2 + z2), B = Σm (z2 + x2), C = Σm (x2 + y2) die Trägheitsmomente des Systems bezüglich der Achsen der x, y, z bedeuten, während die drei letzten D = Σmyz, E = Σmzx, F = Σmxy die sogenannten Deviationsmomente des Systems in bezug auf die Koordinatenachsen sind. Während A, B, C stets positive sind, können D, E, F positiv oder negativ sein, je nach der Lage des Koordinatensystems. Ebenso zeigt man leicht, daß das Trägheitsmoment Σmq2 für eine Ebene ε des Punktes S (oder O), deren Normale die Richtungswinkel α, ß, γ besitzt, und das polare Trägheitsmoment für diesen Punkt die Werte hat: Σmq2 = A' cos α2 + B' cos ß2 + C' cos γ2 + 2 D cos ß cos γ + 2 E cos γ cos ß2 + 2 F cos α cos ß2 und Σmp2 = A + B + C, wo A' = Σmx2, B' = Σmy2, C = Σmz2 die Trägheitsmomente des Systems für die Koordinatenebenen der yz, zx, xy sind.

Trägt man auf jeder Achse h eines Punktes O den reziproken Wert des zu ihr gehörigen Trägheitsradius x von O aus nach beiden Seiten ab, so liegen die Endpunkte dieser Strecken auf einem Ellipsoid, dessen Mittelpunkt O ist (Trägheitsellipsoid). Die Gleichung A cos α2 + B cos ß2 + C cos γ2 – 2 D cos ß cos γ – 2 E cos γ cos α – 2 F cos α cos ß = Σ m · x2 geht durch die Substitution ρx = 1 und ρ cos α = x, ρ cos ß = y, ρ cos γ = z über die Gleichung der Mittelpunktsfläche zweiter Ordnung Ax2 + By2 + Cz2 2 Dy z – 2 Ezx – 2 Fxy = Σm. Wählt man die Hauptachsen dieser Fläche zu den Koordinatenachsen der x, y, z, so verschwinden die Deviationsmomente D, E, F und bleibt Ax2 + By2 + Cz2 = Σm, welches die Gleichung eines Ellipsoids ist, da die Trägheitsmomente A, B, C positive Größen sind. Die Hauptachsen dieses Ellipsoids heißen die Hauptträgheitsachsen des Punktes O, und für sie sind die drei Deviationsmomente D = E = F = 0. Das Ellipsoid selbst heißt das Trägheitsellipsoid des Punktes O und insbesondere für den Massenmittelpunkts des Systems das Zentralellipsoid. Cauchy und Poinsot haben das Trägheitsellipsoid eingeführt. Mit Hilfe der Trägheitsmomente A, B, C für die Hauptachsen kann das Trägheitsmoment für eine beliebige Achse h (α β γ) einfach durch Σm · x2 = A cos2 α + B cos2 ß + C cos2 γ und sein Durchschnittsradius durch die Trägheitsradien[594] der Hauptachsen a, b, c, wofür A = Σm · a2, B = Σm · b2, C = Σm · c2, nämlich durch x2 = a2 cos2 α + b2 cos2 ß + c2 cos2 γ dargestellt werden. Errichtet man in den Endpunkten der Längen x. Ebenen senkrecht zu ihnen, so umhüllen sie ein zweites Ellipsoid mit denselben Hauptachsen, dessen Gleichung x2/a2 + y2/b2 + z2/c2 = 1 ist, während a2x2 + b2y2 + c2z2 = 1 die des Cauchy-Poinsotschen Ellipsoids ist. Dieses Ellipsoid wurde zuerst von Mac Cullagh angegeben und zur Konstruktion der Trägheitsradien benutzt. Seine Halbachsen sind die Hauptträgheitsradien a, b, c selbst, während die Halbachsen des ersteren α, β, γ den Gleichungen genügen aα = bß = cγ = 1. Beide Ellipsoide sind reziproke Figuren zueinander. Auch für die Trägheitsmomente für Ebenen können in ähnlicher Weise derartige Ellipsoide konstruiert werden. – Die Hauptachsen für einen Punkt O können als die Normalen dreier durch O gehenden um den Massenmittelpunkt S beschriebenen konfokaler Flächen zweiter Ordnung, worunter das Ellipsoid von der Gleichung: x2/a2 + y2/b2 + z2/c2 = 1 ist, gefunden werden. Die Achsen eines Punktes O gleichen Trägheitsmomentes bilden eine Kegelfläche zweiten Grades um O als Mittelpunkt. In jedem Punkt O gibt es eine Achse des größten und eine des kleinsten Trägheitsmomentes. Sie sind die Hauptachsen, deren Achsenlänge im Cauchy-Poinsotschen Ellipsoid die kleinste und größte sind. Das Trägheitsellipsoid eines Punktes O kann in eine Kugel übergehen und es können für einen solchen Punkt die Trägheitsmomente aller Achsen gleich werden. Solcher Punkte gibt es im allgemeines höchstens zwei, und zwar nur dann, wenn das Zentralellipsoid ein Rotationsellipsoid um die Achse des größten Trägheitsmomentes ist, im Abstande


Trägheitsmoment [1]

vom Massenmittelpunkt S (Kugelpunkte).

Die Auswertung der Trägheitsmomente geschieht mit Hilfe der Integralrechnung. Daneben, gibt es synthetische Methoden, welche von den Verwandtschaften der Figuren, der Kongruenz, Aehnlichkeit, Affinität, Kollimation und Reziprozität Gebrauch machen. Für ebene Flächenräume konstanter Masse gleich 1, wie sie in der Theorie der Elastizität und Fertigkeit eine große Rolle spielen, liefern die Lehrbücher der graphischen Statik wertvolle zeichnende Methoden (s. den Art. Trägheitsmoment, graphische Berechnung). Trägheitsmomente für verschiedene, häufiger vorkommende Querschnitte s. Biegung, Bd. 1, S. 794–796.


Literatur: Hâton de la Goupillière, Mémoire sur une Théorie nouvelle de la géométrie des masses, Journ. de l'école polytechnique, Cah. XXXVII; Moigno, Leçons de Mécanique analytique, Statique, Paris 1868; Jullien, Problèmes de mécanique, 2. Aufl., Paris 1866; Reye, Beitrag zu der Lehre von den Trägheitsmomenten, Zeitschr. f. Math. u. Physik, Bd. 10, S. 433, und einfache Darstellung der Trägheitsmomente ebener Figuren, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing., Bd. 29, S. 401; Schlömilch, Ueber die Bestimmung der Massen und Trägheitsmomente symmetrischer Rotationskörper von ungleichförmiger Dichtigkeit; Abhandl. der math.-phys. Klasse der Königl. sächs. Gesellsch. der Wissenschaften, Bd. 2, S. 377 (1855); Somoff, Theoretische Mechanik, übersetzt von Zwei, Leipzig 1878, Bd. 2; Routh, The elementary part of the treatise on the dynamics of a System of rigid bodies, Bd. 1, 5. Aufl., London 1891; auch in autorisierter deutscher Ausgabe von Schepp, Leipzig 1898; Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte, 2. Aufl., Leipzig 1879, Bd. 1, S. 100–143, woselbst auch auf rein geometrische Methoden Rücksicht genommen wird.

(† Schell) Finsterwalder.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 8 Stuttgart, Leipzig 1910., S. 594-595.
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