Seilpolygon [2]

[68] Seilpolygon oder Seileck, dient dazu, Kräfte, die in einer Ebene liegen, auf zeichnerischem Wege zu einer Mittelkraft zusammenzusetzen.

Sollen (Fig. 1 links) die Kräfte P1 bis P5 zusammengesetzt werden, so bildet man zunächst (Fig. 1 rechts) aus diesen Kräften ein Kräftepolygon (s.d.). Man fügt, in einem beliebigen Punkte oder »Pole« O beginnend, die Kräfte der Reihe nach aneinander und verbindet die Ecken des Polygons mit O. Diese Verbindungslinien oder »Strahlen« stellen die aufeinander folgenden Mittelkräfte P1–2, P1–3, P1–4 dar; die Schlußlinie R des Kraftecks ist die Mittelkraft sämtlicher Kräfte. Um die Lage dieser Mittelkraft zu erhalten, zeichnet man links das Seileck A B C D. Die Seite A B geht durch den Schnittpunkt von P1 und P2 und läuft parallel zum zweiten Strahl des Kraftecks. Durch den Schnittpunkt B dieser Seite mit P3 zieht man eine Parallele zum dritten Strahl, durch C eine Parallele zum vierten u.s.f. Der Punkt D endlich bestimmt die Lage von R.

Ersetzt man zwei der Kräfte, beispielsweise P3 und P4 durch ihre Mittelkraft P3–4, so bleibt die Mittelkraft R unverändert; daraus folgt, daß P3–4 durch den Schnittpunkt von A B und C D gehen muß. Aehnlich verhält es sich, wenn man an Stelle von drei oder mehr Kräften deren Mittelkraft setzt. Hieraus ergibt sich der Satz: Die Mittelkraft einer Anzahl aufeinander folgender Kräfte geht durch den Schnittpunkt der einschließenden Seilpolygonseiten.

Man kann die Zusammensetzung von Kräften auch derart vornehmen, daß man zu den gegebenen Kräften eine beliebige neue Kraft P0, die wir »Hilfskraft« nennen, hinzufügt (Fig. 2). Auf demselben Weg wie vorhin findet man die Resultante der Kräfte P0 bis P5 als die Seite E F des Seilpolygons. Fügt man aber jetzt wieder eine entgegengesetzte Kraft P0 hinzu, so wird die Wirkung der ersten Hilfskraft aufgehoben und man erhält die Mittelkraft P1–5 als Parallele zu R durch den Punkte. Dieses Verfahren wird gewählt, wenn die gegebenen Kräfte ganz oder nahezu parallel zueinander laufen (vgl. Parallelkräfte).

Kehrt man (Fig. 2) den Richtungssinn der Kraft R um und fügt sie den fünf Kräften P1, bis P5 als sechste Kraft an, so entsteht Gleichgewicht. In diesem Falle bilden die sechs Kräfte ein geschlossenes Krafteck; ebenso schließt sich das Seileck; d.h. es kehrt in sich selbst zurück. Daraus folgt der Satz: Kräfte in der Ebene stehen im Gleichgewicht, wenn sowohl ihr Krafteck als auch ihr Seileck geschlossen ist.[68]

In der Fig. 3 sind die Kräfte P1 bis P5 zweimal zusammengesetzt worden, einmal mit der Hilfskraft P0, sodann mit der Hilfskraft P0'; das eine Seileck ist A B C ..., das andre A' B' C' ... Das Krafteck braucht hierbei nicht zweimal gezeichnet zu werden; es genügt, den Pol O nach O' zu versetzen. Kehrt man den Pfeil der Kraft P0' um und setzt sie mit P0 zusammen, so erhält man eine Kraft, die durch den Punkt G geht und zur Verbindungslinie von O und O' parallel läuft. Auf dieser Kraft schneiden sich je zwei entsprechende Seiten der beiden Seilecke. Denn in der Linie B C z.B. wirkt die Kraft P0' + P1 + P2, in der Linie B' C' die Kraft P0 + P1 + P2 und in der Linie G H I ... die Kraft P0P0'. Da die zweite dieser drei Kräfte die Mittelkraft der beiden andern ist, so müssen sich die drei Linien in einem Punkte schneiden. Daraus folgt der Satz: Bei zwei Seilpolygonen, die mit verschiedenen Polen gezeichnet werden, schneiden sich entsprechende Seiten auf einer geraden Linie, welche die Differenz der beiden Hilfskräfte enthält und zur Verbindungslinie beider Pole parallel läuft. – Der letzte Satz leistet beim Zeichnen von Drucklinien in Gewölben gute Dienste (s. Gewölbeberechnung).


Literatur: s. Graphische Statik.

Mörsch.

Fig. 1., Fig. 2.
Fig. 1., Fig. 2.
Fig. 3.
Fig. 3.
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 8 Stuttgart, Leipzig 1910., S. 68-69.
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