[217⇒] Fürsorgeerziehung nennt das neuere deutsche Recht eine besondere Art der Zwangserziehung (s.d.). Diese beruht auf § 55 und 56 des Reichsstrafgesetzbuches, wonach Kinder im strafunmündigen Alter, unter zwölf Jahren überhaupt, wenn sie eine Straftat begangen haben, und Begeher einer solchen im Alter von 1218 Jahren, wenn das Gericht bei ihnen nicht das volle Bewußtsein der Strafbarkeit annimmt, zur Zwangserziehung einer geeigneten Familie oder [⇐217][218⇒] Anstalt überwiesen werden können. Es war bei allem unleugbaren Segen dieser Vorschriften längst als Mangel anerkannt, daß ein in verkommener Familie gefährdetes Kind erst tatschuldig werden mußte, um den Eltern genommen und einer geeignetern Erziehung zugeführt werden zu können. Das Bürgerliche Gesetzbuch geht daher einen Schritt weiter und gestattet (§ 1666 und 1838), auch ohne daß eine Straftat vorliege, Minderjährige außerhalb ihrer Familie zur Erziehung unterzubringen: 1) wenn deren geistiges oder leibliches Wohl durch die elterliche Gewalt und das ärgerliche Beispiel des Vaters oder der Mutter gefährdet wird, 2) wenn das Vormundschaftsgericht es für ein Mündel nötig oder zweckmäßig erachtet, 3) wenn nur so völliges sittliches Verderben verhütet werden kann. Da das Bürgerliche Gesetzbuch die nähere Regelung der Angelegenheit selbstverständlich den einzelnen Staaten überlassen mußte, ist seither eine Reihe von Ausführungsgesetzen erschienen, unter denen das preußische Fürsorge-Erziehungsgesetz vom 2. Juli 1900 besondere Erwähnung verdient. Trotz seiner erst kurzen Wirksamkeit ist dies Gesetz bereits über 10,000 gefährdeten Minderjährigen zugute gekommen und hat in weiten Kreisen lebhafte Teilnahme für die wichtige Aufgabe des gemeinen Wesens gegenüber der gefährdeten Jugend erweckt, die sich im Vereinsleben wie in der Presse und besonders auch im Volksschullehrerstand erfreulich äußert. Wegen analoger Gesetze und Einrichtungen in einigen ausländischen Staaten s. Zwangserziehung. Vgl. Agahd, Praktische Anweisung zur Durchführung des preußischen Fürsorgeerziehungsgesetzes (Berl. 1901); v. Massow, Das preußische Fürsorgeerziehungsgesetz und die Mitwirkung der bürgerlichen Gesellschaft bei seiner Ausführung (das. 1901); Berger, Jugendschutz und Jugendbesserung (Leipz. 1897) und die Zeitschrift: »Jugendfürsorge; Zentralorgan für die gesamten Interessen der Jugendfürsorge« (hrsg. von Pagel, Berl., seit 1900). [⇐218]
[352⇒] Jugendfürsorge. Immer mehr dringt in der Gegenwart die Überzeugung durch, daß eine der wichtigsten sozialen und nationalen Aufgaben Schutz und Pflege der unter ungünstigen Umständen aufwachsenden und leiblich wie seelisch gefährdeten unmündigen Jugend ist. Gesetzgebung und Verwaltung in Staat [⇐352][353⇒] und Gemeinde (Waisenpflege, Fürsorge- und Zwangserziehung, Schulhygiene, Hilfsschulen, Schutz der Jugend gegen gewerbliche Ausbeutung etc.) begegnen sich auf diesem Gebiet mit immer regerer Vereinstätigkeit (Rettungshäuser, Ferienkolonien, Kinderheilstätten, Kinderhorte, Schülerreisen u. a.) und literarischer Vertretung. Bei der großen, stets zunehmenden Mannigfaltigkeit der Aufgaben und dem entsprechend der einzelnen Unternehmungen muß jedoch auf zusammenfassende Übersicht aller unter diesen Gesichtspunkt fallenden Bestrebungen verzichtet und auf die einzelnen Artikel verwiesen werden. S. besonders auch Jugendliche Verbrecher. Vgl. die Zeitschrift »Jugendfürsorge. Zentralorgan für die gesamten Interessen der J.« (hrsg. von Pagel, Berl., seit 1900); Reicher, Die Fürsorge für die verwahrloste Jugend (bisher 3 Tle., Wien 1904). [⇐353]