Mannigfaltigkeit

[237] Mannigfaltigkeit (Menge, franz. Ensemble), im weitern Sinn jede Vielheit von Dingen, die irgendwie zu einem Ganzen verbunden sind, z. B. ein Wald als Zusammenfassung einer Vielheit von Bäumen. Die einzelnen Dinge, aus denen die M. besteht, heißen ihre Elemente oder Glieder. Die M. heißt diskret, wenn ihre Glieder in eine Reihe angeordnet und gezählt werden können, gleichgültig, ob die Zählung zu Ende geführt werden kann oder nicht, d. h. ob die Zahl der Glieder endlich ist oder nicht. Im letztern Falle hat die M. dieselbe Mächtigkeit (s. d.) wie die M. der natürlichen Zahlen 1, 2, 3 etc. Eine M. heißt stetig oder kontinuierlich, sobald zwischen je zweien ihrer Glieder immer noch beliebig viele Glieder angebbar sind, die ebenfalls der M. angehören. Dieser Art ist z. B. der Inbegriff aller Punkte einer Strecke, die M. aller Zahlen etc. Unser Raum als Gesamtheit der in ihm enthaltenen Punkte erscheint auch als ein besonderer Fall des allgemeinen Begriffs einer stetigen M.; man nennt ihn eine M. von drei Dimensionen, weil man durch Einführung von Koordinaten (s. d.) jedem Punkte drei Zahlen x, y, z derart zuordnen kann, daß durch Angabe dieser Zahlen die Lage des Punktes vollkommen bestimmt ist, und daß auch umgekehrt zu je drei Zahlen x, y, z ein und nur ein Punkt gehört. Indem man sich nun Mannigfaltigkeiten dachte, bei denen jedes einzelne Element durch n solcher Zahlen x1... xn bestimmt ist, unter n eine beliebige ganze Zahl verstanden, erhielt man den Begriff einer stetigen M. von n Dimensionen oder eines Raumes von n Dimensionen, eine Redeweise, die man nur eingeführt hat, um die Sprache zu erleichtern und die Ausdrücke der gewöhnlichen Geometrie auch auf solche Mannigfaltigkeiten anwenden zu können. In diesem Sinn ist durch Graßmann (1844), Riemann (Habilitationsrede 1854) und Helmholtz (»Über die tatsächlichen Grundlagen der Geometrie«, Heidelberger Jahrbücher 1868) der Begriff des n-fach ausgedehnten Raumes in die Mathematik eingeführt worden. Neuerdings hat G. Cantor den allgemeinen Begriff der M. weiter ausgebaut und ist durch Einführung des Begriffs der Mächtigkeit (s. d.) zu dem merkwürdigen Ergebnis gelangt, daß man im wesentlichen nur nötig hat, sich mit Mannigfaltigkeiten von einer Dimension, also mit solchen, die durch Punkte einer Strecke dargestellt werden, zu beschäftigen, denn z. B. die M. aller Punkte eines Quadrats läßt sich eindeutig kehrbar auf die M. aller Punkte einer Strecke abbilden, so daß jedem Punkte des Quadrats ein Punkt der Strecke entspricht und umgekehrt, die beiden Mannigfaltigkeiten haben also im Cantorschen Sinne gleiche Mächtigkeit, obgleich ihre Dimensionen verschieden sind. Die Cantorsche Theorie der Punktmannigfaltigkeiten ist von großer Bedeutung für die ganze höhere Analysis, namentlich für die Lehre von den bestimmten Integralen und für die Funktionentheorie. Vgl. G. Cantor, Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre (Leipz. 1883); Dini, Grundlagen für eine Theorie der Funktionen etc. (deutsch von Lüroth und Schepp, das. 1892); Borel, Exposé de la théorie des ensembles (Par. 1898); Schoenflies, Entwickelung der Lehre von den Punktmannigfaltigkeiten (im »Jahresbericht der deutschen Mathematikervereinigung«, Leipz. 1900).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 13. Leipzig 1908, S. 237.
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