Beweisverfahren

[802] Beweisverfahren nennt man die äußere Gestaltung der Beweistätigkeit im Prozeß. Dabei ist zu unterscheiden die Beweisantretung (früher Beweisinduktion), die Beweisaufnahme (früher Beweisproduktion) und die Beweiswürdigung. Auch ist Zivil- und Strafprozeß auseinander zu halten.

I. Im Zivilprozeß ist 1) die Beweisantretung Sache derjenigen Partei, der die Beweislast (s. d.) obliegt. Sie besteht in der Benennung der Beweismittel. Im gemeinen Prozeß erfolgte diese regelmäßig erst im sogen. Beweisstadium. Dort war nämlich der Prozeß in zwei Stadien zerspalten (sogen. Zäsur des Prozesses). Im ersten stellten die Parteien ihre Behauptungen auf. Dann erließ das Gericht ein Urteil, das sogen. Beweisinterlokut, in dem das Beweisthema und die Beweislast festgesetzt und zugleich eine Frist bestimmt wurde, innerhalb derer die Beweise angetreten werden mußten (Beweisfrist). Nur ausnahmsweise durften die Beweise gleich bei Ausstellung der Behauptungen angetreten werden, was man Beweisantizipation nannte. Im geltenden Zivilprozeß ist jene Zäsur des Prozesses samt dem Beweisinterlokut weggefallen. Hier gilt der Grundsatz der Beweisverbindung, nach dem für jede tatsächliche Behauptung sofort der Beweis angetreten werden soll (Zivilprozeßordnung, § 130, Ziffer 5, § 282, 283). Dieser Grundsatz verhindert zwar nicht eine Beweisnachholung im spätern Verlauf des Prozesses; aber das »nachträgliche Vorbringen von Beweismitteln« ist mit gewissen Gefahren und Nachteilen bedroht (Zw. – Proz. – Ordn., § 278, Abs. 2; 283, Abs. 2; 360,374,438). – 2) Die Beweisaufnahme besteht darin, daß die benannten Beweismittel dazu benutzt werden, um die Wahrheit der zu beweisenden Tatsachen darzutun. Dies geschieht durch Vernehmung der Zeugen und Sachverständigen, durch Vorlegen und Vorlesen der Urkunden, durch Vorweisung und Besichtigung der Augenscheinsgegenstände etc. Die Beweisaufnahme erfolgte im frühern gemeinen Prozeß nach Ablauf der Beweisfrist in einem besondern Beweistermin. Nach heutigem Recht geschieht dies im Laufe der mündlichen Verhandlung, so oft die Benutzung der Beweise als notwendig erscheint, regelmäßig ohne weitere Förmlichkeiten. Sofern ein besonderes Beweisaufnahmeverfahren notwendig ist, wird es nach § 358 durch einen Beweisbeschluß angeordnet, der sich von dem frühern Beweisinterlokut wesentlich unterscheidet. Er enthält keine endgültige Regelung des Beweissatzes oder der Beweislast, sondern ordnet nur die von den Parteien beantragte Beweisaufnahme an. Er ist kein Urteil und keiner Rechtskraft fähig, sondern lediglich eine prozeßleitende Verfügung. Die Beweisaufnahmetäkigkeit selbst geht in der Hauptsache vom Richter aus: er verhört die Zeugen, nimmt die Eide ab etc., jedoch in Anwesenheit und wo nötig unter Mitwirkung der Parteien. Sie soll nach dem geltenden Rechte, wegen des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (s. Beweistheorie), grundsätzlich vor dem erkennenden Gericht selbst erfolgen (Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme), darf aber einem beauftragten oder ersuchten Richter übertragen werden, was häufig geschieht (Ziv.-Proz.-Ordn., § 355, 372, 375, 405, 434, 479). – 3) Aus den aufgenommenen Beweisen schöpft der Richter die Gründe für seine Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit der zu beweisenden Tatsachen. Darin besteht die richterliche Beweiswürdigung, die je nach der geltenden Beweistheorie eine freie oder eine durch gesetzliche Beweisregeln gebundene sein kann. Ein besonderes Beweisschlußverfahren, in dem die Parteien ihre Gründe entwickeln, daß der eigne Beweis gelungen, der des Gegners mißlungen sei, ist nach der deutschen Zivilprozeßordnung nicht erforderlich; über das Ergebnis der Beweisaufnahme ist in der mündlichen Verhandlung, in der diese erfolgte, oder in einem spätern Termin zu verhandeln (§ 285). Die österreichische Zivilprozeßordnung hat sich bezüglich der Anordnung und Aufnahme der Beweise im wesentlichen der deutschen angeschlossen.

II. Im Strafprozeß erfolgt, sofern er als Anklageverfahren (s. Anklageprozeß) gestaltet ist, die Beweisantretung zwar tatsächlich gewöhnlich durch die Parteien. Insbesondere hat die Staatsanwaltschaft schon in der Anklageschrift die Beweismittel anzugeben (Strafprozeßordnung, § 198) und für die Hauptverhandlung die als Beweismittel dienenden Gegenstände herbeizuschaffen (§ 213; vgl. auch § 221, Abs. 2); dem Angeklagten ist durch besondere Vorschriften (§ 164, 188, 199, 218), insbes. durch das Recht der sogen. unmittelbaren Ladung (s. Ladung) Gelegenheit zur Antretung von Entlastungsbeweisen geboken. Dabei dürfen die Parteien jederzeit ihre Beweismittel nachbringen (§ 245). Weil es sich im Strafprozeß um öffentliche Interessen handelt, darf jedoch auch hier das Gericht in jeder Lage des Prozesses von Amts wegen Beweise erheben (§ 200, 220, 243, Abs. 3). Die Beweisaufnahme erfolgt grundsätzlich vor dem erkennenden Gericht, also in der Hauptverhandlung, und zwar nach der Vernehmung des Angeklagten zur Sache (§ 243). Nur ausnahmsweise, insbes. wenn Beweismittel verloren zu gehen drohen, darf sie schon in frühern Prozeßabschnitten durch den Amtsrichter, Untersuchungsrichter, beauftragten oder ersuchten [802] Richter (§ 164, 188, 222–224) erfolgen. Sie geschieht, wie im Zivilprozeß, regelmäßig durch den Vorsitzenden unter Mitwirkung der Parteien, geht jedoch, soweit das Kreuzverhör (s. d.) gestattet ist, vollständig auf die letztern über (§ 238–240). Die Beweiswürdigung wird im Strafprozeß vorbereitet durch die Vorträge der Parteien (§ 257, 299); sie erfolgt dann durch den Richter wie im Zivilprozeß grundsätzlich nach freier Überzeugung (s. Strafprozeßordnung, § 260, und Beweistheorie).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 802-803.
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