Hermeneutik

[219] Hermeneutik (griech., von hermeneuein, »auslegen, dolmetschen«), im allgemeinen Theorie der Auslegekunst, d. h. die wissenschaftliche Darstellung und Begründung der die Auffindung und Reproduzierung des Inhalts einer Schrift, Rede u. dgl. vermittelnden Technik. Biblische H. ist die Theorie der Bibelauslegung, also die spezielle Anwendung der allgemeinen H. auf die Schriften des Alten und Neuen Testaments. Während die katholische Kirche von dem Grundsatz ausgeht, daß die Bibel, weil vom Heiligen Geist eingegeben, auch nur durch die vom Heiligen Geist regierten Organe der Kirche, d. h. in alter Zeit durch die Kirchenväter, zu jeder Zeit aber durch die Konzile und die in Übereinstimmung damit lehrenden rechtgläubigen Lehrer auszulegen sei, unter oberster Autorität des Papstes, also »nach der Analogie des katholischen Lehrbegriffs« stellt der Protestantismus den Lehrsatz auf, die Schrift sei fähig, sich selbst auszulegen (semet ipsam interpretandi facultas), d. h. es ergebe sich aus ihren klarsten Stellen ein unverkennbarer und unfehlbarer Maßstab für die Auslegung auch der dunklern; s. Analogie (des Glaubens). Da man nun der Überzeugung lebte, die Schriftwahrheit in den Bekenntnisschriften zum Ausdruck gebracht zu haben, so lief jener Auslegungskanon in der Praxis auf die Monopolisierung einer gänzlich in den Dienst der Rechtgläubigkeit getretenen Auslegungskunst hinaus. Immerhin trat der Protestantismus der seit den Anfängen der kirchlichen Exegese üblich gewesenen Allegorik entgegen und ging mit aller Bestimmtheit auf den Wortsinn (sensus literalis) als den einzigen Gegenstand der exegetischen Operation zurück. Hierdurch blieben auch in den Jahrhunderten der dogmatisch befangenen Auslegung die linguistischen, lexikalischen, grammatischen Studien innerhalb der Theologie lebendig, und es konnte, als mit der Zeit auch der historische Sinn wieder erwacht war, schon von J. A. ErnestiInstitutio interpretis Novi Testamenti«, 1761) der alle großen Fortschritte der neuern Exegese bedingende Grundsatz der »grammatisch- (besser philologisch-) historischen Auslegung« ausgesprochen und mit Klarheit durchgeführt werden. Wenn in der Zeit der theologischen Romantik und der sie beherrschenden Gemütsbedürfnisse vielfach eine sogen. theologische Auslegung, als für die Bibel speziell in Betracht kommend, der philologisch-historischen Methode an die Seite gestellt oder übergeordnet wurde, so ist man neuerdings von solchen der Pektoraltheologie gemachten Zugeständnissen wieder zurückgekommen, indem man gleichzeitig anerkannte, daß es, wenn die grammatisch-historische Auslegung ihr Werk getan hat, darauf ankomme, ihr Ergebnis in lebendige Beziehung zum religiösen Geistesleben der Gegenwart zu setzen, welches Geschäft alsdann der sogen. praktischen Auslegung anheimfällt. Vgl. Immer, H. des Neuen Testaments (Wittenb. 1873).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 219.
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