Osiris

[159] Osiris, ägypt. Gottheit, die in späterer Zeit allgemein als Totengott verehrt wurde. Ursprünglich war O. vielleicht ein alter König, der in Abydos (s. d. 2) bestattet war und dessen Grab als heilig betrachtet wurde. Man glaubte, daß O. als König über die Toten herrsche, als »erster der Westlichen«, und daß darum jeder ägyptische König, der je zu Lebzeiten mit dem Gotte Horos (s. d.) identifiziert worden war, nach seinem Tod eins mit O., dem »großen Gotte«, werde. Seit dem mittlern Reiche wurde diese Anschauung auf weitere Kreise übertragen, und überhaupt jeder Verstorbene für einen »O.« gehalten. Die große Verbreitung des Osiriskultus geht auf die Priesterschaft von Heliopolis zurück, die ihn unter die neun ägyptischen Hauptgötter aufnahm und zu einem Sohne des Erdgottes Geb und der Himmelsgöttin Nut machte. Als Gattin wurde ihm seine Schwester Isis (s. d.) zugesellt. In Heliopolis wurden auch die Sagen, die sich an O. knüpften, mit den Horosmythen zusammengeworfen. Horos wurde zu einem Sohne des O. und der Isis; Set, der alte Gegner des Horos, zum Bruder und Mörder des O. Zahlreiche Anspielungen auf diese Sagen enthalten die alten mythologischen Texte; doch ist uns keine zusammenhängende Darstellung des Mythus in ägyptischen Texten erhalten. Diese verdanken wir erst einer griechischen Quelle, Plutarchs Schrift »De Iside et Osiride«. Danach war O. ein uralter König, dem die Gesittung der Ägypter, namentlich die Erfindung des Pfluges, der Gesetze und des religiösen Kultus verdankt wurde. Aber sein feindlicher Bruder Set (Typhon) trachtete ihm nach dem Leben und verschwor sich mit 72 andern zu O.' Untergang. Sie schlossen ihn durch List in eine prächtige Lade und warfen diese in den Nil, auf dem sie ins Meer hinaustrieb. Isis legte Trauerkleider an, als sie die Kunde erhielt, und suchte klagend die Leiche des O. Endlich fand sie die Lade in der Gegend von Byblos an das Land geworfen und verbarg sie an einem sichern Orte. Typhon aber entdeckte dieselbe und zerschnitt nun den Körper in 14 Teile, die er überallhin zerstreute. Isis suchte dieselben wieder und begrub sie, jeden an den Ort, wo sie ihn gefunden hatte (daher in späterer Zeit die zahlreichen Osirisgräber in Ägypten). Als aber Horos, des O. Sohn, in Buto herangewachsen war, nahm er den Kampf gegen Set auf, und dieser ward endlich besiegt. Die Ägypter erzählten weiter, daß O. durch Zauberformeln von Horos zu neuem Leben erweckt worden sei und nun in der Unterwelt seine Herrschaft weiter ausübe. Dort hielt er auch das Totengericht über die Verstorbenen ab. Nach Plutarch bedeutet das Einschließen des O. in den Sarg das Verschwinden des Nilwassers; doch faßt er den O. auch allgemeiner als das Prinzip des Schaffenden, während er in Set-Typhon die zerstörende Gewalt der Natur erkennt. –

Osiris (Berlin).
Osiris (Berlin).

Eine zweite, gleichfalls uralte Kultstätte des O. war die Stadt Tetu (Busiris) im Delta, wo ein Pfahl als Fetisch verehrt wurde, den man später als Rückgrat des O. deutete. Die Griechen setzten O. dem Dionysos gleich. Dargestellt wird O. in menschlicher Gestalt, gewöhnlich in Mumienform. In den Händen trägt er die Zeichen der Herrschaft (Zepter und Geißel), auf dem Haupte die Krone von Oberägypten, häufig an den Seiten besetzt mit der Straußfeder, dem Sinnbild der Wahrheit (s. Abbild.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 159.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: