[109] Verstand (Intellectus), im allgemeinen Sinne die Fähigkeit des Verstehens, d. h. der sachlich richtigen und genauen Auffassung gegebener Tatsachen oder Gedanken und ihrer Beziehungen. Ein guter V. setzt Scharfe, d. h. die Fähigkeit, die mannigfaltigen Bestandteile eines verwickelten Zusammenhangs zu unterscheiden, und Nüchternheit, d. h. Unabhängigkeit von den subjektiven Einflüssen des Gefühls und der Affekte, voraus und unterscheidet sich dadurch einerseits von der Dummheit, welche die feinern Einzelheiten und Beziehungen nicht erkennt, anderseits von der Schwärmerei, welche die Gebilde der eignen Phantasie an Stelle der Wirklichkeit setzt. Im praktischen Leben heißt deshalb derjenige vorzugsweise verständig, der sich immer durch die ruhige Erwägung der jeweiligen Sachlage, nicht durch Antriebe des Affekts oder durch Wünsche und Hoffnungen leiten läßt. Die Vorzüge des Verstandes bezeichnen aber zugleich seine Schranken. Er ist nicht schöpferisches, aufbauendes, sondern kritisches, ausgestaltendes Vermögen; er liefert unserm geistigen Leben nicht neue wertvolle Inhalte, setzt unserm Handeln nicht neue Aufgaben und Ziele, sondern bringt das Vorhandene nur in übersichtliche Ordnung. zieht aus gegebenen Voraussetzungen die Folgerungen und bestimmt die Mittel zur Erreichung gegebener Zwecke. Die Philosophie definiert demgemäß den V. (nach Kant) als das Vermögen der Begriffe und setzt ihn einerseits zur Anschauung (s. d.), anderseits zur Vernunft (s. d.) in Gegensatz. Erstere ist es, die uns (als sinnliche Wahrnehmung) zuerst Vorstellungen von Gegenständen liefert, der V. bemächtigt sich dieser, er zerlegt und gliedert das einheitliche Anschauungsbild und hebt einzelne Bestandteile und Beziehungen durch Abstraktion daraus hervor, indem er sie in die Form des [109] Begriffs bringt. Die genauere Analyse der Erkenntnis ist freilich dazu gelangt, dieser empirischen, bewußten, diskursiven Verstandesfunktion eine reine, vorbewußte synthetische gegenüberzustellen, indem sie annimmt, daß die an sich zusammenhangs- und beziehungslosen Elemente der Empfindung durch den V. verknüpft und in Beziehung gesetzt werden müssen, um Vorstellungen von Gegenständen, Vorgängen etc. entstehen zu lassen. Hiernach ist nur der Stoff der Anschauung gegeben, ihre Form aber im V. begründet (Intellektualität der Anschauung, Schopenhauer), in den Kategorien oder reinen Verstandsbegriffen kommt uns (nach Kant) diese Form zum Bewußtsein. Aber wie die Anschauung des Verstandes bedarf, so ist dieser seinerseits durchaus an den Stoff der Anschauung gebunden und seine Aufgabe lediglich die »Erscheinungen nach Begriffen zu buchstabieren«, während die Vernunft über Anschauung hinausgeht und die durch Sinne und V. vermittelte empirische Auffassung der Welt zu ergänzen strebt. Die Formen und Gesetze der (diskursiven) Verstandestätigkeit behandelt im einzelnen die Logik (s. d.). Gesunder Menschenverstand (lumen naturale) heißt der natürliche und unbefangene, durch keinerlei vorgefaßte Meinungen oder einseitige Denkgewohnheiten beeinträchtigte V.