Empfindung

[761] Empfindung bezeichnet im gewöhnlichen wie im philosophischen Sprachgebrauch im allgemeinen sowohl den Vorgang der Erregung innerer Zustände in einem Wesen durch äußere auf dasselbe wirkende Reize als auch diese Zustände selbst. Wie weit die Fähigkeit des Empfindens in der Natur verbreitet sei, ist eine strittige und kaum bestimmt zu beantwortende Frage; als unzweifelhafter Beweis für E. gilt in der Biologie das Vorhandensein von Sinnesorganen, doch gibt es zahlreiche niedere Organismen, die, ohne solche zu besitzen, doch auf Reize (Licht, Berührung etc.) ganz so reagieren, als ob sie eine E. von denselben hätten. Das Zustandekommen der E. läßt sich weder nach physikalisch-chemischen noch nach psychologischen Gesetzen erklären; das äußere Geschehen und die innern Zuständlichkeiten sind eben ganz heterogene Dinge, die sich nicht auseinander ableiten lassen (weswegen Du Bois-Reymond die E. zu den »sieben Welträtseln« rechnet), höchstens kann die Metaphysik versuchen, beide auf einen einheitlichen Grund zurückzuführen. Hinsichtlich des Unterschiedes der E. von andern seelischen Zuständen ist der gewöhnliche Sprachgebrauch schwankend, im Sinne der heutigen Psychologie sind unter Empfindungen die letzten unterscheidbaren Elemente der objektiven (auf Gegenständliches bezüglichen) Bewußtseinsinhalte, d.h. der Wahrnehmungen und Vorstellungen, zu verstehen. Demnach darf die E. weder mit dem (subjektiven) Gefühl (s. d.) noch mit der (aus Empfindungen zusammengesetzten) [761] Vorstellung verwechselt werden. Freude, Ärger etc. sind nicht Empfindungen, sondern Gefühlszustände, ein gesehener Farbenfleck, ein gehörtes Geräusch sind nicht Empfindungen, sondern Komplexe von solchen. Im wirklichen Seelenleben kommt kaum je eine E. für sich allein, sondern immer nur in Verbindung mit Gefühlen oder andern Empfindungen vor, von denen sie nur unterschieden, aber nicht geschieden werden kann. An der E. selbst unterscheidet man die Merkmale der Intensität und der Qualität. Auf der unmittelbaren Schätzung der Empfindungsintensitäten (Helligkeitsgrade, Druckgrößen etc.), mit denen sich die Psychophysik (s. d.) eingehender beschäftigt, beruhen im Grund alle Aussagen über Größen und Kräfte der äußern Natur. Hinsichtlich der Qualität unterscheidet man die Qualitätenkreise der Druck-, Kälte-, Wärme-, Schmerz-, Geschmacks-, Geruchs-, Ton- und Lichtempfindungen, die untereinander unvergleichbar sind, innerhalb deren aber Verwandtschaften und Abstufungen bestehen. Während aber zwischen den Ton- und Lichtempfindungen stetige Übergänge bestehen (die Töne lassen sich in eine Tonreihe, die Farben in einen Farbenkreis ordnen), lassen sich die Empfindungen der andern Qualitätenkreise in kein System bringen; bei den Druck-, Wärme- und Kälteempfindungen sind überhaupt qualitative Unterschiede kaum angebbar. Die Entstehung einer E. ist an drei objektive Bedingungen geknüpft: es muß ein Reiz vorhanden sein, dieser muß auf einen Sinnesnerv wirken können, und die Wirkung muß sich zum Gehirn (sensorium) fortpflanzen. Sowohl Vorgänge außerhalb des Organismus als auch Zustandsänderungen in ihm können als Reize wirken. Auf innerer (in den einzelnen Organen wirksamer) Reizung beruhen die sogen. Gemeingefühle und die Bewegungsempfindungen (s. d.), auf der direkten Erregung der nervösen Zentren (des Gehirns) die stärkern oder schwächern Empfindungen, welche die Halluzinationen, Traumvorstellungen, die Erinnerungs- und Phantasiebilder zusammensetzen. Die äußern Reize unterscheidet man in allgemeine, die auf alle, und in besondere (adäquate), die bloß auf bestimmte, mit entsprechenden Endapparaten ausgerüstete Sinnesnerven wirken; so bilden für das Ohr der Schall, für das Auge das Licht, für Geruch und Geschmack die chemischen Wirkungen luftförmiger und flüssiger Körper besondere Reize, während durch Druck oder Stoß, durch Elektrizität etc. die meisten, vielleicht alle Sinnesnerven erregt werden können. Was die Abhängigkeit der E. vom Reize betrifft, so richtet sich ihre Intensität, wie leicht begreiflich, nach der Stärke des letztern, worüber die Psychophysik (s. d.) Genaueres lehrt. Schwieriger liegt die Sache in bezug auf die Qualität der E. Die verschiedensten Reize, wie Schlag, eine elektrische Entladung, innere Blutüberfüllung etc., rufen z. B. auf das Auge wirkend immer Empfindungen derselben Art hervor, während anderseits ein und derselbe (z. B. ein elektrischer) Reiz ganz verschiedene Empfindungen bewirkt, je nachdem er auf das Auge, Ohr, die Zunge etc. angewendet wird. Die von J. Müller aufgestellte Lehre von der spezifischen Energie der Sinnesnerven behauptet daher, daß die Qualität der E. lediglich durch die Natur des jeweilig gereizten Nervs bestimmt werde. Doch sind ihr in neuerer Zeit schwerwiegende Bedenken entgegengestellt worden, denn sowohl einzelne Experimente als die Tatsache, daß erst im Laufe der Entwickelung der Lebewesen sich die bei den einfachsten Organismen über den ganzen Körper erstreckende Empfänglichkeit für Reize verschiedenster Art auf besondere Sinnesapparate lokalisiert und zugleich spezialisiert hat, legen den Schluß nahe, daß eine ursprüngliche Verschiedenheit in der Tätigkeitsweise der Sinnesnerven nicht besteht, und daß die spezifischen Differenzen als Ergebnisse der Wechselwirkung zwischen äußerm Reiz und aufnehmendem Organ zu betrachten sind, durch die das letztere zur Aufnahme einer bestimmten Klasse von Reizen immer geeigneter gemacht wird. Wie diese Frage übrigens auch immer entschieden werden möge, so läßt sich wenigstens behaupten, daß unter den normalen Bedingungen einer Verschiedenheit in der Qualität der E. auch eine Verschiedenheit der Reize entspricht. Niemals aber ist die Beschaffenheit der E. identisch mit derjenigen des Reizes; die Empfindungen können vielmehr nur als Zeichen für bestimmte objektive Vorgänge betrachtet werden. So entspricht der Lichtempfindung eine Wellenbewegung des Äthers, der Wärmeempfindung eine Schwingung der Teilchen des warmen Körpers etc. In der Philosophie ist daher die Frage aufgeworfen worden, mit welchem Rechte wir überhaupt, da uns doch unmittelbar nur die E. gegeben ist, auf eine äußere Ursache derselben schließen, und wie es möglich sei, eine Kenntnis der letztern zu gewinnen. Ist es richtig, wie der Sensualismus (s. d.) behauptet, daß alles Vorstellen und Denken nur in einer Wiederholung und Verbindung abgeschwächter Empfindungen besteht, dann wäre allerdings auch der Subjektivismus (s. d.) eines Hume und Berkeley im Rechte, welche lehren, daß unser Erkennen beschränkt ist auf die innern Zustände unsers Selbst; die tiefere Forschung führt aber zu dem Ergebnis, daß wir in dem Denken eine von der E. unabhängige Erkenntnisfähigkeit besitzen, für welche die Empfindungen nur die Data bilden zur selbsttätigen Konstruktion eines Bildes der objektiven Welt. Vgl. Wahrnehmung.

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Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 761-762.
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