[759] Phantasīe (griech., Einbildungskraft) ist im allgemeinen die Fähigkeit der freien Erzeugung mehr oder weniger zusammengesetzter Vorstellungen. Die P. ist bei ihrer Betätigung gebunden an die einfachen Elemente, die uns die sinnliche Wahrnehmung (in den qualitativ unterschiedenen Empfindungen) zur Verfügung stellt (daher entbehrt die P. des Blindgebornen der Farben, die des Taubgebornen der Klänge), vermag diese aber in der mannigfachsten Weise zu verknüpfen und so nicht nur Vorhandenes und früher Wahrgenommenes nachzubilden, sondern eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit neuer Vorstellungen zu schaffen. Vom Gedächtnis unterscheidet sich die P. dadurch, daß es sich bei jenem bloß um die Wiedererneuerung von Vorstellungen, bei dieser aber um die Neubildung von solchen handelt, von der Ideenassoziation dadurch, daß bei dieser die verbundenen Bestandteile nur ein mehr oder weniger loses Aggregat bilden, während die P. sie zu einem einheitlichen Ganzen verknüpft; die Ideenassoziation schweift ziellos ins Weite, die P. arbeitet immer in einer bestimmten Richtung. Demgemäß muß bei ihr immer das Ganze, wenn auch zunächst nur in unbestimmten Umrissen, dem Bewußtsein vorschweben, ehe die einzelnen Bestandteile nach Maßgabe ihres Zusammenhanges im ganzen klar vorgestellt werden. In dieser Hinsicht steht die P. der Denktätigkeit nahe, von der sie sich nur durch den anschaulichen Charakter ihrer Produkte, die immer konkrete Einzelvorstellungen sind, unterscheidet (die P. ist »ein Denken in Bildern«). Je nachdem das Moment der innern Tätigkeit mehr oder weniger hervortritt, kann man eine passive und eine aktive P. unterscheiden; passiv ist die P., wenn wir uns dem Spiel der Vorstellungen überlassen, die durch eine Gesamtvorstellung in uns angeregt werden, aktiv, wenn wir mit absichtlicher Auswahl der einzelnen Züge uns ein Gesamtbild gestalten. Die passive P. wirkt bei Kindern und Naturmenschen um[759] so lebhafter, je weniger hier das logische Denken entwickelt ist, und ihre Produkte werden dann häufig für wirklich gehalten (Entstehung von Mythen, des Glaubens an fabelhafte Wesen etc.), bez. bekommen wirkliche Dinge, indem die P. sie mit weitern Eigenschaften ausstattet, eine andre Bedeutung (in der P. des Kindes ist das Steckenpferd ein lebender Organismus, der Stuhl unter Umständen ein Wagen u.s.f.). Liegt in dem Überwuchern besonders der passiven P. einerseits eine Gefahr, insofern sie zu wirklichkeitswidrigen (phantastischen) Vorstellungen führt, so ist doch anderseits die (durch die ästhetischen und logischen Gesetze geleitete) aktive P. für jede schöpferische geistige Tätigkeit unentbehrlich; ganz abgesehen von den Erzeugnissen der Kunst ist sie auch bei allen technischen und wissenschaftlichen Entdeckungen beteiligt, indem hier fast immer neue Kombinationen der Stoffe und Kräfte, neue Gedankenbeziehungen zuerst anschaulich vor das geistige Auge treten, ehe sie logisch geprüft und begrifflich fixiert werden. Eine metaphysische Bedeutung gab Frohschammer der P., indem er die gesamte Wirklichkeit als Produkt einer absoluten Weltphantasie auffaßt (»Die P. als Grundprinzip des Weltprozesses«, Münch. 1876). Vgl. Glogau, Die P. (Halle 1884); Schmidkunz, Analytische und synthetische P. (das. 1889); Leuchtenberger, Die P., ihr Wesen, ihre Wirkungsweise u. ihr Wert (Erfurt 1894); Ribot, Essai sur l'imagination créatrice (Par. 1900; deutsch: »Die Schöpferkraft der P.«, Berl. 1902); Wundt, Völkerpsychologie, Bd. 2, Teil 1 (Leipz. 1905).