Durchgehende Wagen

[469] Durchgehende Wagen (through carriages; voitures directes; vetture dirette) werden für den Verkehr zwischen zwei oder mehreren Orten eingerichtet, wenn dieser zwar lebhaft aber nicht so groß ist, daß er durch besondere Züge (s. Durchgangszug) bedient werden kann. Dies gilt sowohl für den Personenverkehr als auch für den Güterverkehr. Im Güterverkehr bilden bei Beförderung von Wagenladungen D. die Regel. Ob auch das Stückgut in D. zu befördern ist oder auf Unterwegsstationen umgeladen werden muß, wird allein vom wirtschaftlichen Standpunkte aus geprüft und bestimmt. Soweit der Umfang des Verkehrs es irgend rechtfertigt, ist man bestrebt, auch hier D. zu bilden und Umladungen zu vermeiden. Für den regelmäßigen Verkehr werden auf Grund besonderer Anordnung und Vereinbarung mit den beteiligten Verwaltungen D. in ein für allemal bestimmte Züge eingestellt. Außerdem werden die Versandstellen ermächtigt, D. als geschlossene Stückgutwagen zum Versand zu bringen, wenn bestimmte Mengen Stückgut für eine Empfangs- oder Umladestation vorhanden sind.

Im Personenverkehr kommen wesentlich andere Gesichtspunkte für die Einrichtung von D. in Frage. Ob hier ein D. zur Verfügung gestellt werden kann, hängt in weit höherem Maße als beim Güterverkehr von den Betriebseinrichtungen ab. Die Bequemlichkeit, die darin liegt, daß der Reisende beim Antritt der Fahrt einen bis zum Zielpunkt der Reise durchgehenden Wagen vorfindet, wird mit Zunahme der allgemein gebotenen Reisebequemlichkeiten[469] immer höher eingeschätzt. Der Wunsch auf Einrichtung von D. tritt daher besonders aus Orten, die nicht den Vorzug genießen, an großen Eisenbahnlinien mit zahlreichen durchgehenden Zugverbindungen zu liegen, immer dringender an die Eisenbahnverwaltungen heran, während die vielen Querverbindungen des Eisenbahnnetzes und die wachsende Anzahl von Anschluß- und Abzweigestationen die Zahl der Verkehrsmöglichkeiten dauernd vergrößern und die Erfüllung der Wünsche immer schwieriger machen. – In welchem Grade die Einrichtung von D. tatsächlich begründet ist, hängt einerseits vom Umfang des Verkehrs, anderseits vom Umfang der Unbequemlichkeiten ab, die in den einzelnen Verkehrsverbindungen beim Wagenwechsel eintreten. Je nachdem das Umsteigen unter freiem Himmel oder in geschützter Bahnhofshalle stattfindet, je nachdem die Übergangszeit knapp oder mit größerem, vielleicht auch mit unnötig langem Stillager verbunden ist, je nachdem sie in die Nacht- oder Tagesstunden fällt, je nachdem beim Umsteigen längere Wege zurückgelegt, Bahnsteigtreppen und Tunnel begangen werden müssen oder die Züge am Bahnsteig sich unmittelbar gegenüberstehen, werden die Unbequemlichkeiten ganz verschieden empfunden. – Noch mehr aber schwanken die Aufwendungen und Erschwernisse, die die Einrichtung von D. im Eisenbahnbetriebe verursachen. Sie machen sich hauptsächlich in folgender Weise bemerkbar:

1. Die Platzausnutzung in den Zügen wird verschlechtert. Die Mitführung von D. hat deshalb häufig eine Vermehrung der Zugstärke und eine Erhöhung der Zugkosten zur Folge.

2. Die einheitliche Zugbildung wird beeinträchtigt. Für die verschiedenen Zuggattungen werden in der Regel besondere Wagengattungen verwendet. So finden in den D-Zügen (s.d.) besonders hierfür gebaute Wagen mit innerem Durchgang und Übergangsbrücken Verwendung, während diese bei den übrigen Zügen fehlen. Müssen nun Züge verschiedener Gattung der Anschlüsse wegen zur Beförderung von D. benutzt werden, so wird die Zugbildung aus einer einheitlichen Wagengattung unmöglich gemacht. – Es wird von den Reisenden angenehm empfunden und dient auch zur Beschleunigung der Zugabfertigung, wenn die Wagen III. Klasse von den Wagen I. und II. Klasse im Zuge getrennt stehen. Die D. stören diese Ordnung, weil ihre Stellung eine solche sein muß, daß sie auf den Übergangsstationen von einem Zug auf den anderen überführt werden können. Der Verkehrsumfang ist nur selten so groß, daß er den Fassungsraum eines Wagens überschreitet. Bei Zugverbindungen mit 3 Wagenklassen können daher in der Regel nur D. mit Abteilen aller Wagenklassen Verwendung finden. Diese Bauart der Wagen ist aber aus den angeführten Gründen für den allgemeinen Reiseverkehr unzweckmäßig und sollte besonders im D-Zugdienst vermieden werden.

3. Das Überführen der D. von Zug zu Zug erfordert mehr oder weniger umständliche Rangierbewegungen. Diese haben fast immer Vergrößerungen der Zugaufenthalte, eine Zunahme der Zugverspätungen und auch der Betriebsgefahren zur Folge. Der dadurch der Mehrzahl der Reisenden zugunsten einer oft nur geringen Minderzahl zugefügte Nachteil ist häufig nicht unerheblich. Er wird nur deshalb ertragen, weil er für die Reisenden nicht ohne weiteres erkennbar ist.

4. Die D. stören das Ein- und Aussetzen von Verstärkungswagen oder von Wagen, die in den Zügen nicht regelmäßig, sondern nur bei gewissen Anlässen auf Teilstrecken mitgeführt werden. Auch hier sind Zugverspätungen die Folge, weil der Fahrplan auf derartige Ausnahmen keine Rücksicht nehmen kann.

Da nach diesen Ausführungen sowohl dem Bedürfnis zur Einführung von D. wie auch den Umständen, die die Einführung erschweren, eine sehr verschiedene Bedeutung beigemessen werden muß, so wird es erklärlich, daß sich allgemeine Regeln darüber, wann D. einzurichten sind, nicht aufstellen lassen. Jedenfalls müssen die Eisenbahnverwaltungen Sonderwünschen gegenüber möglichste Zurückhaltung bewahren. Sie sind das der ihnen obliegenden Pflicht auf pünktliche und sichere Abwicklung des Gesamtverkehrs schuldig. Da, wie bereits hervorgehoben, die Reisenden des allgemeinen Verkehrs nicht beurteilen können, in welchem Umfange sie unter der Beförderung von D. zu leiden haben, so kann den Sonderwünschen gegenüber nur das Urteil der Betriebsverwaltung maßgebend sein, die nach den Umständen des Einzelfalles vielleicht die Einführung von D. ablehnen muß, für die an und für sich ein Verkehrsbedürfnis vorliegt, während für eine andere weniger wichtige Verkehrsverbindung D. ohne weiteres zugestanden werden können.

Ist die Entscheidung der Frage, ob D. zuzulassen sein möchten, schon schwierig, wenn die Wagen im eigenen Bezirk der Verwaltung verbleiben, so erhöhen sich die Schwierigkeiten, wenn die Wagen den Bezirk mehrerer [470] Verwaltungen durchlaufen. Besonders gilt dies für den Fall, daß durch die Einrichtung von D. der Verkehr auf Bahnstrecken, die miteinander in Wettbewerb stehen, zugunsten oder zum Nachteil einer der mitbeteiligten Verwaltungen beeinflußt wird. Die Beförderung von D. bildet daher einen Hauptgegenstand der ständig zwischen den am Durchgangsverkehr beteiligten Verwaltungen schwebenden Verhandlungen über den Fahrplan und die Zugbildung. In früheren Jahren wurden die Abmachungen in einzelnen Verwaltungsgruppen getroffen. Seit dem Jahre 1889 sind jedoch die am großen europäischen Durchgangsverkehr beteiligten Verwaltungen – 32 deutsche und 37 außerdeutsche im Jahre 1912 – übereingekommen, die Regelung des Personen- und Gepäckwagendurchganges in regelmäßigen, dem Fahrplanwechsel angepaßten gemeinsamen Besprechungen, den Europäischen Wagenbeistellungskonferenzen vorzunehmen. Das Ergebnis der Verhandlungen wird im EWP., dem europäischen Wagenbeistellungsplan, zusammengestellt und aus diesem in die Zugbildungspläne der einzelnen Verwaltungen übernommen. Die verschiedenen Wagenläufe sind nach der geographischen Lage so geordnet, daß die Verhandlungen, soweit angängig, getrennt und nebeneinander unter drei geschäftsführenden Verwaltungen, der Staatsbahndirektion Wien, dem königl. Verkehrsamt München und dem königl. Eisenbahn-Zentralamt Berlin, stattfinden können. Der letzteren Behörde obliegt gleichzeitig die Zusammenstellung und Drucklegung des EWP. An der Vorbereitung der Verhandlungen sind außerdem beteiligt die kgl. Eisenbahndirektionen in Breslau, Cöln und Frankfurt a. M., sowie die Generaldirektionen in Amsterdam, Bern, Dresden und Karlsruhe. Den Beratungen liegen die Vereinbarungen zu Grunde, die auf den Konferenzen im Laufe der Zeit getroffen wurden und die den Geschäftsverkehr, sowie die allgemein für den Lauf der D. geltenden Regeln betreffen. Sie enthalten Bestimmungen über die einheitliche Bezeichnung der Personen- und Gepäckwagen (s. Abkürzungen), über die Beförderung leer laufender D., über die Maßnahmen und den Nachrichtendienst beim Schadhaftwerden von D., über die Bedingungen bei Zulassung von D., die wie z.B. Salonwagen nicht in regelmäßigen Kursen, sondern nur ausnahmsweise verkehren (Lübecker Bedingungen), die Vorhaltung von Frauen-, Nichtraucher- und Raucherabteilen in D., über die Numerierung der Plätze in den deutschen D-Zügen (s.d.), über die Ausrüstung der D. mit Laufschildern (s.d.) an den Außenseiten und bei D-Zugwagen auch im Innern, sowie mit Heizungsschläuchen, über die Aushänge und Anschläge in den Personenwagen, sowie über die Beleuchtung, Heizung und Reinigung. Die Vereinbarungen enthalten auch einen einheitlichen Tarif über die bei Wagenbeschädigungen einzuziehenden Beträge und treffen Bestimmung über die Abrechnung der Wagenleistungen. Diese erfolgt für die in vereinbarten Kursen laufenden D. fast ausscließlich auf dem Wege des Naturalausgleichs. Zu dem Zwecke werden von den Übergangsstationen für die die Wagen benutzenden Verwaltungen monatliche Schuldnachweise aufgestellt. Auf Grund dieser Nachweise fertigt jede Verwaltung eine Übersicht, aus der ihre Mehr- und Minderleistungen den anderen Verwaltungen gegenüber hervorgehen. Die Übersichten gehen an die Hauptausgleichstelle (Eisenbahnzentralamt Berlin), die dann durch Übertragung von Schuld und Guthaben einen Ausgleich herbeiführt oder eine anderweitige Regelung der Wagenstellung anregt.

Um die Annehmlichkeit der Benutzung der D. zu erhöhen und besonders die Nachtruhe der Reisenden nicht durch unnötig häufige Fahrkartenprüfungen zu stören, wird in den Vereinbarungen auf durchgehende Schaffnerbegleitung der Wagen, sowie auf Einschränkung der Fahrkartenprüfung beim Wechsel der Schaffner hingewirkt.

Obwohl die Einheitlichkeit in der Bauart der Wagen im Laufe der Zeit große Fortschritte gemacht hat, so daß Wagen verschiedener Länder in demselben Zuge heute nebeneinander verwendet und bei D-Zügen sogar durch einheitlich angeordnete Faltenbälge miteinander verbunden werden können, so fehlt in einer für den Wagendurchgang besonders wichtigen Frage, in der Bauart der Bremse, bisher noch die einheitliche Regelung. D. in den Personen- und Schnellzügen müssen deshalb, wenn die beteiligten Verwaltungen abweichende Einrichtungen für die durchgehende Bremse besitzen, wie das z.B. bei den österreichischen und deutschen Bahnen zurzeit noch der Fall ist, mit den verschiedenen in Frage kommenden Bremsausrüstungen und den damit in Zusammenhang stehenden Vorrichtungen – Notbremse oder Klingelleitungen – ausgestattet werden.

Eine besondere Bedeutung haben die D. bei der Einrichtung von Eisenbahnfähren erhalten. Die Betriebsaufwendungen, die hier gemacht werden, um den Reisenden das Umsteigen zu ersparen, finden in dem Fahrgeld für die Fahrstrecke nur selten einen[471] Ausgleich. Sie sind trotzdem gerechtfertigt aus allgemein wirtschaftlichen Rücksichten, da sie, wie die Erfahrung bestätigt hat, eine segensreiche Belebung des Gesamtverkehrs zur Folge haben.

Breusing.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 3. Berlin, Wien 1912, S. 469-472.
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469 | 470 | 471 | 472
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