Cantate

[191] Cantate. (Dichtkunst. Musik)

Ein kleines für die Musik gemachtes Gedicht von rührendem Inhalt, darin in verschiedenen Versarten, Beobachtungen, Betrachtungen, Empfindungen und Leidenschaften ausgedrükt werden, welche bey Gelegenheit eines wichtigen Gegenstandes entstehen. Der Dichter richtet seine Aufmerksamkeit auf eine interessante Scene aus der Natur, aus dem menschlichen Leben, aus der Moral, Politik oder Religion. Aus Betrachtung dieses Gegenstandes entstehen in ihm wichtige Gedanken, ernsthafte oder freudige Empfindungen, die bisweilen in starke Leidenschaften ausbrechen. Wenn er nun dem sich abändernden Zustand des Geistes und Herzens zufolge, das, was er sieht, beschreibt, was er denkt oder empfindet, ausdrükt, den Ausbruch seiner Leidenschaft schildert, und für jedes eine besondre, der Sache angemessene Versart wählet, so entstehet dadurch die Cantate. Sie fällt demnach nothwendig in verschiedene Dichtungsarten. Ein Theil kann erzählend, ein andrer lehrend, ein andrer betrachtend, und ein andrer rührend seyn. Daher können in der Cantate Recitative, Cavaten, Arioso, Ariette, und Arien zugleich vorkommen; und von diesen verschiedenen Arten kommen mehr oder weniger vor, je nachdem der Dichter sich bey einem Gegenstand mehr oder weniger aufhält. Ein oder zwey Recitative und ein paar Arien müssen nothwendig dabey vorkommen. Da wir die verschiedenen Dichtungsarten der besondern Theile der Cantate in besondern Artikeln beschrieben haben, so wollen wir hier nur einige allgemeine Anmerkungen über den Gebrauch und die verschiedene Gestalten der Cantate machen.

Der vornehmste Gebrauch der Cantaten ist bey dem öffentlichen Gottesdienst, an feyerlichen Tagen. Der Dichter nimmt die Begebenheit, deren Andenken feyerlich begangen wird, zu seinem Gegenstand. Er muß dabey die Absicht haben, das Volk auf die wichtigsten Theile seines Gegenstandes aufmerksam zu machen, dasselbe auf wichtige Betrachtungen und Lehren zu führen, lebhafte Empfindungen rege zu machen, und überhaupt das ganze Gemüth mit einer heilsamen Leidenschaft zu erfüllen. Ueberhaupt muß also der Dichter den Charakter der geistlichen Dichtung wol beobachten, und sich vornehmlich in Acht nehmen, weder Witz, noch Kunst, noch irgend etwas zu zeigen, wodurch der Zuhörer von dem Gegenstand seiner Betrachtung auf den Dichter, oder auf Nebensachen könnte abgeführt werden. Es muß nichts vorkommen, was blos zur Belustigung diente, sondern alles muß auf Erbauung übereinstimmen.

Da die Cantate keine Handlung ist, wie das Drama, sondern eine Betrachtung über einen grossen Gegenstand, so muß sie nicht weitläuftig seyn. Denn Weitläuftigkeit über einen einzigen Gegenstand macht verwirrt und schwächet die Hauptvorstellung. Der Dichter soll nicht alles, was sich über den Gegenstand gutes denken oder empfinden läßt; sondern nur das wichtigste, das, was den Verstand und das Herz am stärksten rühret, anbringen. Es giebt Dichter, welche in Cantaten über das Leiden des Heilandes, oder über seine Geburt, in die kleinsten Umstände sich einlassen; jeden, wenn er auch noch so wenig auf sich hat, bemerken machen, Betrachtungen darüber, wie man sagt, bey den Haaren herbey zu bringen. Dadurch[191] werden sie frostig. Es gehört in die Cantate nichts, als was groß und stark rührend ist, und das Einfache muß dabey dem Verwikelten vorgezogen werden.

Einige machen ihre Cantaten dramatisch, dieses schikt sich gar nicht; denn die Cantate ist die Moral einer Handlung, und nicht die Handlung selbst. Es geht wol an, daß zwey oder auch drey Personen eingeführt werden, welche abwechselnd reden oder singen, aber dieses ist kein Drama. Denn jede von den redenden Personen drükt ihre eigene Empfindungen und Betrachtungen aus. Dieses macht keine Handlung. Wenn aber allegorische Personen eingeführt werden, so wird insgemein die ganze Vorstellung frostig. Aus diesem Grunde rathen wir sie dem Dichter gänzlich ab.

Auch thun Erzählungen, Beschreibungen mit Arien, die moralische Anmerkungen und Maximen enthalten, keine gute Würkung. Sie sind der Lebhaftigkeit der Empfindungen entgegen, und geben dem Tonsetzer nicht Gelegenheit genug, sich kräftig und rührend auszudruken.1 Findet der Dichter nöthig, dem Zuhörer historische Umstände zu Gemüthe zu führen, so kann er es auf eine weit lebhaftere Art, als durch Erzählungen thun. Er kann ihm die Sache lebhaft vor Augen bringen, indem er sich anstellt, als ob er die Sachen sähe und höre. So hat es Ramler in seiner Cantate über das Leiden des Heilandes in dem ersten Recitativ gethan. So hat es Rolli in der schönen Cantate von Atis und Galathee gethan, da er im folgenden Recitativ auf das lebhafteste vorstellt, was keine Erzählung würde gethan haben.


Ma gorgogliar la piacida marina già sento,

Ecco! gia sorge,

Ecco! gia sopre l'inargentata concha,

Ecco apparir la Diva!

E i zeffiretti alati

La guidan' alla riva.


Es giebt Cantaten, da der Dichter in seiner eigenen Person spricht, die man betrachtende nennen könnte, und andre, da er historische Personen sprechen läßt, damit wir uns desto lebhafter in ihre Umstände und Fassung setzen können. Diese kann man historische Cantaten nennen. Einen weitläuftigen Unterricht über alles, was der Dichter bey der Cantate zu beobachten hat, um sie zur Musik recht bequem zu machen, findet man in Krausens fürtreflichem Werk von der musicalischen Poesie.2

Die Cantate ist eine von den Dichtungsarten, welche den Alten unbekannt geblieben, wiewol sie schätzbare Vorzüge hat. Die geistliche Cantate ist für den öffentlichen Gottesdienst sehr wichtig. Andre von moralischem Inhalt, können bey andern festlichen Gelegenheiten, oder auch nur blos in Concerten, von sehr grossem Nutzen seyn, wenn der Dichter und der Tonsetzer jeder das seinige dabey gethan haben.

Es giebt zweyerley Gattungen der Cantaten, kleinere, für die Cammermusik, darin weder ein vielstimmiger Gesang, noch vielstimmige Begleitung verschiedener Instrumente vorkommt; und grössere zur feyerlichen Kirchenmusik, darin Chöre, Choräle und andre vielstimmige Gesänge und eine starke Besetzung von verschiedenen Instrumenten statt hat. Diese werden insgemein Oratoria genennt. Bey diesen hat der Tonsetzer überhaupt in Ansehung des guten Geschmaks dasjenige zu beobachten, was von der Kirchenmusik ist erinnert worden. Die kleinern Cantaten erfodern einen überaus reinen und in allen Stüken vollkommenen Satz, als solche Stüke, in denen jeder kleine Fehler anstößig wird, und bey denen der Mangel der Handlung und der theatralischen Vorstellung durch innerliche Schönheiten muß ersetzt werden.

1Celles qui sont en récit & les airs en Maximes, sont toujours froides & mauvaises; le Musicien doit les rebuter. ROUSSEAU Dick. da Musique Art. Cantate.
2Im fünften Hauptstük.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 191-192.
Lizenz:
Faksimiles:
191 | 192
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon