Bedeutet nach seinem Ursprung, zu einem gegebenen einstimmigen Choralgesang, noch eine oder mehrere Stimmen verfertigen. Weil die ältern Tonsetzer sich anstatt der Noten, die itzt gebräuchlich sind, blosser Punkte zu Bezeichnung der Töne bedienten, so wurd ein einstimmiger Gesang durch eine Reyhe Punkte auf verschiedene Linien gesetzt, ausgedrukt: um also noch eine Stimme dazu zu setzen, mußte gegen diese Reyhe noch eine andre, und also gegen jeden Punkt noch einer gesetzt werden.
Daher ist es gekommen, daß man durch das Wort Contrapunkt das Setzen selbst, oder die Kunst des Satzes verstanden hat. Diejenigen Bücher also, welche die Regeln des Contrapunkts erklären, sind eigentliche Anleitungen zu dem reinen Satz, in sofern er blos die Harmonie betrift. Dieses geht auf den weitern Sinn des Worts.
In einem engern Verstand bedeutet es die besondere Art des Satzes, nach welchem die Stimmen [227] gegen einander können verwechselt, und ohne Veränderung ihres Ganges höher oder tiefer gesetzt werden, so daß jeder Ton darin um eine Octave, None, Decime u. s. f. tiefer oder höher gesetzt wird. Wenn dieses ohne Verletzung der Harmonie geschehen soll, so müssen gleich anfänglich die Stimmen, in der ersten Anlage nach gewissen Regeln verfertiget seyn. Wofern dieses nicht geschieht, so kann auch die Verwechslung der Stimmen nicht statt haben.
Der Contrapunkt im weitern Sinn, bey dem auf keine Verwechslung gesehen worden, wird auch der gemeine oder der einfache Contrapunkt genennt; der andre, dessen Stimmen zur Verwechslung eingerichtet sind, wird der doppelte oder überhaupt der vielfache Contrapunkt genennt; je nachdem zwey, drey oder mehr Stimmen, zur Verwechslung geschikt sind.
Auch der einfache Contrapunkt ist zwey- drey- oder mehrstimmig, und so, daß entweder in allen Stimmen die Noten von einerley Geltung sind, oder daß auf jede Note der gegebenen Hauptstimme in den andern Stimmen zwey oder vier Noten stehen u. s. f. Er ist entweder ganz frey, in welchem Falle blos darauf gesehen wird, daß die Stimmen eine reine Harmonie gegen einander haben; oder an gewisse Regeln gebunden. Diese Regeln befehlen entweder, daß die Stimme des Contrapunkts die Hauptstimme mit mehr oder weniger Genauigkeit nachahmen soll, (daher die Nachahmungen und die Canones entstehen) oder daß sie eine der Hauptstimme entgegengesetzte Bewegung haben soll1; oder daß sie sich rükwärts bewegen soll2. Wer den reinen Satz lernen will, muß dabey anfangen, daß er sich fleißig im einfachen Contrapunkt jeder Art übet. Dazu findet ein Anfänger eine ziemlich vollständige Anweisung, mit einer grossen Menge Beyspiele begleitet, in dem Werke, das der ehemalige kayserliche Capellmeister. Fux unter dem Titel: Gradus ad Parnasum herausgegeben hat. Es ist jedem, der in der Musik zu einiger Fertigkeit des reinen Satzes zu gelangen wünschet, anzurathen, die Uebungen eines solchen Contrapunkts mit grossem Ernst zu treiben.
Weil man gegenwärtig von diesem Contrapunkt meistentheils unter dem Namen der Uebungen in der Composition spricht, so braucht man das Wort Contrapunkt itzt fast allezeit in dem andern engern Sinn. Man sagt: es seyen in einer Symphonie, in einem Concert u.s.f. Contrapunkte angebracht, wenn man sagen will, es seyen Stellen darin, wo die Stimmen gegen einander verwechselt worden.
Der Begriff dieses Contrapunkts wird durch folgende Vorstellung deutlich werden:
Der zweystimmige Gesang, der hier bey a vorgestellt ist, steht bey b und bey c im Contrapunkt. Die obere Stimme bey c ist der Hauptgesang3. Dieser hat bey a eine höhere Stimme zur Begleitung, welche gegen die Hauptstimme die Intervalle 5, 6, 7, 5, ausmacht. Bey b ist die begleitende obere Stimme um eine Terz herunter gesetzt. Dieses nennt man den Contrapunkt in der Terz. Dadurch ändern sich die Intervalle, die 5 wird 3; 6 wird 4; 7 wird 5; dennoch bleibt alles harmonisch richtig. Bey c wird die begleitende Stimme eine Octave tiefer, als bey b gesetzt, und der Satz c ist gegen b im Contrapunkt der Octave, wodurch die Intervalle, wie die darüber geschriebene Zahlen deutlich zeigen, ganz verändert werden, ohne irgend eine Unrichtigkeit in der Harmonie zu verursachen. Eben dieser Satz ist bey c gegen den bey a im Contrapunkt der Decime.
Also ist der Contrapunkt in der Decime anzusehen, als wenn er aus einer wiederholten Versetzung, erst in der Terz und denn noch einmal in der Octave, entstanden wäre. Eben so ist der Contrapunkt der Duodecime erst ein Contrapunkt in der Quinte, und denn von da aus noch in der Octave.
Vorher ist der bey a stehende Satz, bey b in den Contrapunkt der Terz, und bey c in den Contrapunkt der Decime versetzt worden; hier nun ist er bey d in den Contrapunkt der Quinte, und bey e in den Contrapunkt der Duodecime gesetzt.
[228] Wenn man sehen will, wie sich die Intervalle in jedem Contrapunkt verändern, so darf man nur, wie in folgenden zwey Beyspielen, zwey Reyhen Zahlen, von 1 bis auf das Intervall, in welchem der Contrapunkt gemacht wird, in verkehrter Ordnung unter einander schreiben.
Für den Contrapunkt in der Terz.
Für den Contrapunkt in der Duodecime.
In diesen Beyspielen stellt die eine Reyhe die Intervalle vor, wie sie sind, ehe die Versetzung in den Contrapunkt geschieht, die andre Reyhe zeiget, was durch den Contrapunkt aus jedem Intervall wird. Also wird durch den Contrapunkt in der Duodecime die Octave zur Quinte, die Septime zur Sexte u.s.f. oder umgekehrt, die Quinte zur Octave, die Sexte zur Septime u.s.f.
Der Contrapunkt in der Octave verdienet besonders vorgestellt zu werden.
denn daraus erhellet, daß die Dissonanzen in der Umkehrung auch dissoniren, und die Consonanzen consonirend bleiben, ausser der Quinte, welche in die dissonirende Quarte übergeht4. Aus diesem Grunde ist der Contrapunkt in der Octave der leichteste; denn er erfodert weiter keine Vorsichtigkeit, als daß beym Satz die Quinte mit der gehörigen Vorbereitung angebracht werde, damit sie in der Umkehrung als eine vorbereitete Dissonanz erscheine.
Die fünf erwähnten Contrapunkte, nämlich in der Terz, in der Quinte, in der Octave, in der Decime und in der Duodecime, lassen sich in jedem Gesang anbringen, und der Setzer wählt allemal diejenige, die der Stimme, für welche er setzet, am angemessensten ist.
Dieser doppelte Contrapunkt hat zwar seinen Hauptsitz in Fugen, Moteten und Chören, die daher bey der grossen Einfalt des Gesanges ihre Mannigfaltigkeit bekommen. Man würde sich aber sehr irren, wenn man glaubte, daß dieser Theil der Kunst für die Musik des Theaters und der Cammer unnütz sey. Weder ein Duet noch ein Trio, kann ohne die Künste des Contrapunkts gut werden, der überhaupt in allen Fällen, wo zwey oder mehr concertirende Stimmen vorkommen, schlechterdings nothwendig wird. Man setze, daß zu der ersten Hauptstimme eine zweyte, ohne Rüksicht auf die Regeln dieses Contrapunkts gesetzt werde. Nach der Natur des Duets und des Trio5 muß hernach die zweyte Stimme den Hauptgesang führen, die erste Stimme wird einigermaassen die begleitende, und nimmt also die Stelle ein, die die zweyte Stimme vorher gehabt hat; deswegen muß ihr Gesang versetzt werden. Wie kann dieses aber angehen, wenn er zu einer solchen Versetzung, (wodurch jedes Intervall seine Natur verliehrt) nicht vorher eingerichtet ist.
Diejenigen also, die sich, wegen eines falschen Begriffs, den sie sich vom Contrapunkt machen, einbilden, er bestehe blos aus pedantischen Künsteleyen, und sey dem gefälligen Gesang hinderlich, betrügen sich gar sehr. Er kann mit dem schönsten Gesang verbunden werden.
Häufige Beyspiele findet man in allen Duetten des Capellmeister Grauns, wo der süsseste Gesang in Contrapunkte versetzt ist, ohne das geringste von seiner Schönheit zu verliehren. Wir wollen zum Beyspiel dessen, und zugleich zur Erläuterung des Gebrauchs der Contrapunkte nur einen einzigen besondern Fall anführen. Folgendes ist aus einem Duet der Oper Europa galante genommen.
[229] Diesen reizenden, in Terzen fortgehenden Gesang, findet man etwas besser hin in dem Contrapunkt der Octave, also:
Hier hat nun die zweyte Stimme den Hauptgesang genommen, und die erste Stimme sollte nunmehr diese Hauptstimme eine Terz tiefer haben, und also die Töne so nehmen, wie sie hier im ersten Takt mit Punkten bezeichnet sind. Dadurch aber würde der höhere Discantist oder Sopranist mit seiner Stimme unter den tiefern gekommen seyn, und wol gar nicht mehr haben singen können. Damit er also auf einer Höhe bliebe, die seiner Stimme angemessen ist, mußte die Stimme, deren Anfang hier mit Punkten angezeiget ist, um eine Octave höher genommen, das ist, sie müßte in den Contrapunkt der Octave versetzt werden.
Wer sich die Mühe geben will, die Ouvertüren eines Händels, die Duette und Chöre eines Grauns anzusehen, der wird finden, daß die Künste des Contrapunkts überall darin angebracht sind. Durch die mannigfaltige Harmonie, die bey einerley Tönen vermittelst der contrapunktischen Versetzungen erhalten wird, bekommen die Arbeiten solcher Meister, eine immer abwechselnde Schönheit, die niemand, der in diesen Künsten unerfahren ist, erreichen kann.
Dieser doppelte Contrapunkt erfodert, ausser der genauen Kenntniß der harmonischen Regeln, eine grosse Fertigkeit in der Ausübung derselben. Man muß schon, indem eine Hauptstimme gesetzt wird, auf einen Blik jede Veränderung übersehen können, die durch die Umkehrung jeden einzeln Ton, sowol für sich, als in der Verbindung mit andern betreffen wird.
Es ist bereits erinnert worden, welche Contrapunkte die brauchbarsten seyen. Die andern Arten sind deswegen nicht ganz unnütze; denn sie können bisweilen den, der sie recht versteht, aus harmonischen Verlegenheiten ziehen. Aber sie blos darum zu setzen, weil sie schweer sind, und z. B. eine lange Stelle in dem Contrapunkt der Undecime zu bringen, und noch ausserdem Nachahmungen in gerader, verkehrter und rückgängiger Bewegung zu machen, sind Dinge, die man den musikalischen Pedanten überlassen muß.
Wer sich von der besondern Beschaffenheit aller Arten Contrapunkte unterrichten will, der kann eine ziemlich vollständige Anweisung in Marpurgs Abhandlung von der Fuge, finden.
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