Denkspruch

[240] Denkspruch. (Redende Künste)

Ein kurzer in der Rede beyläufig angebrachter Satz, der eine wichtige allgemeine Wahrheit enthält. Diejenigen, denen lange Erfahrung und ein scharfes Nachdenken grosse Kenntniß der Welt und der Menschen gegeben hat, pflegen jede vorkommende Sache gegen die ihnen beywohnenden allgemeinen Begriffe und Urtheile, als gegen einen Maaßstab zu halten, um dadurch entweder ihre Begriffe zu berichtigen, oder das besondere in einen allgemeinen Gesichtspunkt zu bringen: und daher entstehen in ihren Reden, diese allgemeine Anmerkungen, davon diejenigen, die wichtig genug sind, in beständigem Andenken behalten zu werden, Denksprüche genennet werden. Orestes findet bey seiner Zurückkunft nach Mycene seine Schwester an einen armen Landmann verheyrathet, der sich aber als ein großmüthiger Mensch, gegen seine Gemahlin aufführet: Der Sohn des Agamemnons, von einem so edlen Verfahren gerührt, hält dieses besondere Beyspiel, gegen ein allgemeines Vorurtheil, und bricht dabey in diese Worte aus. Wenn werden doch die Menschen klug genung werden, das Vorurtheil abzulegen, den Adel der Seele aus dem äusserlichen zu beurtheilen.1 Auf diese Art entstehen die Denksprüche, indem man das Besondere, das man gegenwärtig vor sich hat, gegen das Allgemeine hält, das in den Begriffen und Urtheilen der Menschen liegt.

Man hat zu allen Zeiten die Denksprüche als einen wichtigen Theil der redenden Künste angesehen, ob sie gleich auch ofte, wegen des übertriebenen Gebrauchs, in Mißcredit gekommen sind. Suetonius lobt den Augustus, daß er den kindischen Gebrauch der Denksprüche in seiner Schreibart vermieden habe.2 Eine Gattung der asiatischen Schreibart, die bey den strengsten Kunstrichtern eben nicht im besten Ansehen stehet, unterscheidete sich durch einen Ueberfluß solcher Denksprüche, die aber in dieser Art mehr witzig und zierlich, als wichtig und groß waren.3 Daß die Sache könne übertrieben werden, und daß gemeine, erzwungene, blos witzige Denksprüche, Flecken der Rede und keine Schönheiten seyen, läßt sich gar leicht begreiffen. Allein dieses benimmt der Wichtigkeit der Sache nichts, und kann uns nicht hindern, über den Nutzen und den Gebrauch derselben einige Anmerkungen zu machen. [240] Die Hauptabsicht der schönen Künste geht auf Erwekung lebhafter Vorstellungen, die dauerhafte und zugleich nützliche Eindrüke auf die Gemüther der Menschen machen. Unter diesen Vorstellungen sind ohne Zweifel diejenigen Hauptwahrheiten, die uns auf der einen Seite die wahren moralischen Verhältnisse des Menschen richtig und deutlich abzeichnen, auf der andern Seite die richtigsten Regeln für unser Thun und Lassen angeben, die nützlichsten und zugleich die wichtigsten. Eine blos speculative Kenntniß dieser Wahrheiten, ist von geringem Nutzen; sie müßen dergestalt mit dem sinnlichen Gefühl verbunden werden, daß wir die Widersprüche gegen dieselben, nicht als Fehler des Urtheils ansehen, sondern als Zerrüttungen der Empfindungen fühlen. Nur die Wahrheiten, die man so empfindet, haben Einfluß auf unsre Handlungen.

Also muß die Wahrheit, die der Leitfaden unsers sittlichen Denkens und Handelns seyn soll, sich in uns, als eine Folge der Empfindungen äussern. Dieses aber geschicht nur alsdenn, wenn wir lebhafte und richtige Gemählde, von den sittlichen Verhältnissen der Menschen, und den mannigfaltigen Auftritten des Lebens vor Augen haben, und die darin liegenden allgemeinen Wahrheiten, als in Beyspielen anschauend erkennen. Nun thun Geschichtschreiber, Redner und Dichter, wenn sie nur, wie ihr Beruf es erfodert, wahre Weisen sind, nichts anders, als daß sie uns solche Gemählde vor Augen legen. Sollten sie aber dabey versäumen, uns auch, wenn wir stark genung davon gerührt sind, die Moral derselben, oder die darin liegende allgemeine Wahrheit, in einem kurzen und lebhaften Denkspruch zugleich einzuprägen? Wie könnten sie besser, als auf diese Weise, das, wofür sie von den ältesten Zeiten her gehalten worden, Lehrer der Menschen seyn.

Es ist eine Erfahrung, die jeder Mensch von Nachdenken ofte muß gemacht haben, daß manche Wahrheit uns lange bekannt gewesen ist, ohne merklichen Eindruk auf uns zu machen, bis wir in einem besondern Fall dieselbe so fühlen, daß sie auf beständig als eine immer würkende Kraft, in der Seele liegen bleibet. Dieses ist der Fall der wichtigen Denksprüche, wenn sie am rechten Ort angebracht werden, und wenn das Gemählde, dem sie gleichsam zur Aufschrift dienen, vorher recht lebhaft gezeichnet worden.

Man würde sich fälschlich einbilden, daß es jedem Leser könnte überlassen werden, selbst die in den Gemählden liegenden Lehren heraus zu ziehen; denn, nicht zu gedenken, daß nicht jeder Leser dieses zu thun im Stand ist, so dienet auch hier, wie in andern Dingen, das Beyspiel zu einer weit lebhaftern Vorstellung. Wir sind bey lächerlichen und traurigen Auftritten, durch das was wir sehen und hören, vollkommen zum Lachen oder Weinen vorbereitet, und dennoch lachen oder weinen wir nicht eher, bis wir sehen, daß andre es thun, und uns gleichsam den Ton dazu angeben; und gerade so geht es auch mit der lebhaften Empfindung der Wahrheit, die ebenfalls durch das Beyspiel sehr verstärkt wird.

Man kann also die Denksprüche mit Grund als sehr wesentliche Vollkommenheiten der Werke redender Künste ansehen. Wenn in den ältesten Zeiten der Philosophie der den Namen eines Weisen verdiente, der einige von ihm gemachte Beobachtungen über das sittliche Leben der Menschen, in einem kurzen Denkspruch faßte, so wie die bekannten Sprüche der sogenannten sieben Weisen, wie viel mehr wird der Dichter oder Redner diesen Namen durch wichtige Denksprüche verdienen können, da er uns zugleich das Gemählde, an dem wir ihre Wahrheit auf das lebhafteste fühlen, mit lebendigen Farben vorzeichnet? Dadurch hat Euripides verdient unter den Philosophen, neben den göttlichen Sokrates gestellt zu werden.

Es sind zwar nicht alle Wahrheiten gleich wichtig, doch ist jede, wenn sie nur vollkommen richtig und bestimmt ist, schätzbar: man muß deßwegen nicht verlangen, daß die Denksprüche lauter erhabene Wahrheiten enthalten sollen; denn auch die gemeinen, die in dem allgemeinen Gefühl aller Menschen mit mehr oder weniger Klahrheit liegen, werden dadurch wichtig, daß sie in den Gemüthern wirksam werden. Wie für einen Menschen, der Brod um den Hunger zu stillen kaufen muß, das kleineste Stük von gangbarem Gelde nützlicher ist, als ein Stük von weit grösserm Werthe, das nicht gangbar wäre, so ist es auch mit den Wahrheiten, von denen die brauchbarsten, auch die besten sind. Man hat deßwegen mehr auf die gute Art, die Denksprüche anzubringen, als darauf zu sehen, daß sie etwas neues oder schweerer zu bemerkendes enthalten; denn man sagt immer etwas wichtiges, wenn man etwas [241] wahres auf das kräftigste sagt. Eine einzige, sehr einfache Regel, ist beynahe hinlänglich den Redner und Dichter hiebey zu führen: wo er irgend an einer Stelle seines Werks eine Wahrheit höchst lebhaft fühlt, da sage er sie. Dieses zeiget ihm nicht nur die Stellen, wo die Denksprüche gut stehen, sondern auch der gute Ausdruck derselben wird ihm ohne Mühe beyfallen, wenn er nur selbst lebhaft fühlt. Aber aus jeder Stelle mit Gewalt einen Denkspruch zu erzwingen, wie man mit dem Stahl Feuer aus einem Stein schlägt, ist der gerade Weg abgeschmakt zu werden. Die Anmerkung muß aus der Materie, wie eine Bluhme aus ihrer Knospe hervorbrechen, und nicht, wie etwa in solchen Bluhmen, die man den Kindern zum Spielzeug giebt, willkührlich an solchen Stellen angehängt seyn, wo die Natur sie niemals hervorbringt.

Die größte Behutsamkeit hierin hat der epische, und noch mehr der dramatische Dichter nöthig. Der erste kann noch hier und da, wiewol auch überaus selten, in seiner eigenen Person sprechen, und wo er selbst also eine Wahrheit stark fühlt, sie als einen Blitz, aus der Stelle, wo sie gezeuget wird, hervorbrechen lassen; aber der dramatische Dichter läßt nur andre reden. Da ist es nicht genug, daß er selbst die Wahrheit in der höchsten Kraft fühle, er muß, um sie anzubringen, versichert seyn, daß die Person, die er einführt, sie so gefühlt und so gesagt haben würde. Nicht nur der von Sentenzen überfliessende Seneca in seinen Trauerspielen, sondern der grosse Euripides selbst, hat dagegen oft gefehlt; Sophocles aber niemals. Man kann es sowol bey den Griechen, als bey den Römern sehen, wie bey dem Abnehmen des guten Geschmaks, die Lust an Sentenzen immer zunimmt. So bald man anfängt, den Zwek der Künste aus dem Gesichte zu verlieren, und mit Gewalt nur gefallen will, so bildet man sich ein, jeder Vers oder jede Periode müsse sich durch eine besondere Schönheit für sich ausnehmen, und verfällt dadurch in den kindischen Geschmak, die Denksprüche zum Auszieren zu brauchen, und alles wird zu Sentenzen. Daher sagt Quintilianus, kommen denn die kleinen und abgeschmakten Sprüchelchen die der Materie ganz fremd sind; denn wie sollte man so viel gute Denksprüche finden, als Perioden sind?4 Einige übertreiben die Sache so sehr, daß ihre ganze Rede eine Zusammensetzung von Denksprüchen ist.

Nirgend wird eine größere Vollkommenheit des Ausdruks erfodert, als bey den Denksprüchen. Kraft und Kürze, Klarheit und Wolklang müssen da auf das vollkommenste vereiniget seyn, weil sie ohne diese Eigenschaften die schnelle und lebhafte Würkung, die sie thun sollen, nicht haben können. Dazu hilft keine Regel: nur das wahre Genie, durch die Wärme der Empfindung lebhaft gereizet, findet, ohne zu suchen, die Mittel dazu.

Cicero hat die Gattungen der Denksprüche in wenig Worten sehr gut bezeichnet. Zum Unterricht müssen sie scharfsinnig, zum Vergnügen witzig, zu Erwekung der Empfindung ernsthaft seyn5. Sie kommen aber nicht allemal in Form allgemeiner Sätze oder Lehren, sondern auch als Vermahnungen und Bestraffungen oder Warnungen vor, wie der bekannte Spruch des Virgils: discie justitiam moniti nec temnere divos. Es giebt sehr vielerley Arten der Wendung sie anzubringen; aber es wäre unnöhtig sich dabey aufzuhalten.

Eine besondere Gattung machen die lustigen Denksprüche aus, die scherzhaften Werken eine große Annehmlichkeit geben können. Jederman weiß, was für einen Reiz La Fontaine seinen scherzhaften Fabeln und Erzählungen dadurch gegeben hat, und unser Gellert hat sich derselben auch ofte sehr glüklich bedienet. Sie sind zum Scherzhaften eben so wichtig, als die andern zu Werken von ernsthaftem Inhalt, und können das Lächerliche, wie mit einem Brandmal unauslöschlich, zeichnen. Die poßirliche Sentenz, die La Fontaine einem Dummkopf, der glaubt die Natur tadeln zu können, in den Mund legt:


On ne dort point quand on a tant d'esprit.


kann uns nie beyfallen, ohne daß wir zugleich über solche Narren lachen, dergleichen der dichter in dieser Fabel [242] schildert. Aber wie in ernsthaften Denksprüchen nur Männer von einer gewissen Stärke der Vernunft und des Genies glüklich seyn können, so gehört zu den scherzhaften eine original Laune, die vielleicht das Seltenste aller Talente ist.

1Eurip. Electra v. 383 f. f.
2Genus eloquendi secutus est elegans, vitatis sententiarum ineptiis. Oct. Aug. c. 86.
3Asiaticum (genus) adolescentiae magis quam senectuti concessum, Genera autem duo sunt: unum sententiosum & argutum, sententiis, non tam gravibus & severis, quam concinnis & venustis. Cicero de Clar. Orator. c. 9.
4Inde minuti corruptique sensiculi et extra rem petiti: neque enim possunt tam multæ bonæ sententiæ esse, quam necesse est multæ sint clausulæ. Inst. L. VIII. 1-5. Nec multas plerique sententias dicunt, sed omnia tamquam sententias. Ib.
5Sunt docendi acutæ: delectandi quasi argutæ: commovendi graves. De Opt. Gen. Orat. – Est vitiosum in sententia, si quid absurdum, aut alienum, aut non auctum, aut subinsulsum est. Ib.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 240-243.
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