Edel

[288] Edel. (Schöne Künste)

Man nennt in allen Gattungen sittlicher Dinge, die den Geschmak betreffen, dasjenige edel, was sich von dem gemeinen seiner Art durch einen erhöhten Geschmak unterscheidet. Das Edle im metaphorischen Sinn scheinet allemal sich auf etwas sittliches zu beziehen; denn man hört nie von edlem Verstand, oder von edler Ueberlegung, sondern von edlem Betragen, von edlen Gesinnungen sprechen. Eigentlich liegt also das Edle in den Empfindungen, welche gemein oder auch unedel sind, wenn sie durch keine Ueberlegung, durch keinen verfeinerten Geschmak, der das bessere dem schlechtern, das wolschikliche dem weniger schiklichen, das wolanständige dem weniger anständigen vorzieht, erhöht worden.

Demnach besteht das, was den Geschmak und die Sinnesart edel macht, darin, daß man bey ästhetischen und sittlichen Gegenständen das, was feiner, schöner, überlegter, schiklicher, mit einem Worte, vollkommener ist, dem weniger vollkommenen nicht nur vorzieht, wenn beyde vorhanden sind, sondern das Vollkommenere bey Empfindung des Unvollkommenern sucht und fühlet. Es giebt Menschen, denen in Absicht auf die erwähnten Arten der Gegenstände fast alles gleichgültig ist; die nicht empfinden, daß eine Art sich auszudrüken feiner und ausgesuchter ist, als eine andre; daß ein Ton der Stimme vor dem andern etwas gefälliges hat; daß einige äusserliche Manieren vor andern etwas vorzügliches haben: diese Menschen sind von gemeinem, nicht edlen Geschmak. Diejenigen, die alle Empfindungen ohne Ueberlegung und ohne Wahl äussern, die darin weder Anstand, noch Grade, noch Verhältnis empfinden, sind Menschen von gemeiner, nicht edler Sinnesart.

Es erhellet hieraus, daß die Betrachtung des Edlen der Theorie der schönen Künste wesentlich zugehöre. Denn da sie unmittelbar auf die Erhöhung und Verfeinerung der untern Seelenkräfte, folglich auf die Veredlung derselben abzielen, so muß das Edle nothwendig eine Eigenschaft jedes Gegenstandes der Kunst seyn, das unedle, niedrige oder gemeine kann in den schönen Künsten nicht anders, als zum Gegensatz und zur Erhöhung des Edlen gebraucht werden, so wie der Schatten zur Erhöhung des Lichts dienet.

Es ist also eine allgemeine und wesentliche Regel, daß in den Werken der schönen Künste alles edel seyn müsse, ausser dem Fall, da man zu Erhöhung des Edlen, mit guter Wahl, dem Unedlen einen Platz vergönnet. In den Werken des Geschmaks muß alles und jedes von einer Wahl zeugen, durch welche der Künstler das Vollkommene in jeder Art dem Unvollkommenern vorgezogen hat. Was nicht deutliche Spuhren dieser Wahl an sich hat, ist in Absicht auf den Geschmak ein schlechtes Werk. Das Unedle aber kann da gebraucht werden, wo Spott oder Verachtung zu erweken ist. Dazu hat Homer seinen Thersites und so manchen unedlen Menschen unter den Freyern der Penelope gebraucht, und aus dieser Absicht hat Buttler in seinem Hudibras nichts, als niedrige und unedle Personen und Auftritte gewählt; beydes zeuget von Wahl und Geschmak. Aber wenn Paul von Verona, wenn Rembrand und so mancher Niederländer in ernsthaften Vorstellungen Personen, die nichts verächtliches haben sollen, von niedrigen und unedlen Gesichtsbildungen, Gebehrden, Stellungen und Handlungen einführen, so ist es Mangel der Wahl und der Empfindung des Edlen.

Daß auch Kenner der Kunst von so vielen Gemählden niederländischer Meister, darin man das Edle ganz vermißt, mit grossem Lobe sprechen, daß solche Stüke von Sammlern sehr hoch gehalten werden, [288] beweißt nichts gegen den vorher angenommenen Grundsatz des Geschmaks. Man schätzet solche Werke deswegen, weil darin Theile der Kunst, nämlich die Haltung und das Colorit in der Vollkommenheit erscheinen.

Das Edle zeiget sich entweder in der Sache selbst, oder in der Art des Vortrages; beydes muß immer zusammen seyn. Ein edler Gedanken kann durch einen schlechten Ausdruk verdunkelt werden, die edelste Handlung durch eine schlechte und gemeine Art, viel von ihrem Werth verlieren; ein Gebäude von edlem und grossem Ansehen, in so fern man es im ganzen betrachtet, kann durch überhäufte, gemeine und pöbelhafte Verzierungen schlecht werden. Darum sollen nicht nur edle Gegenstände gewählet, sondern auch das Zufällige darin ihrer edlen Natur richtig angemessen werden.

Jeder Künstler hat sich unaufhörlich zu bestreben, seinen Geschmak und den sittlichen Theil seiner Seele immer mehr zu veredlen. Denn obgleich das Gefühl, wodurch wir schnell, und oft uns selbst unbewußt, das edlere dem gemeinern vorziehen, eine Gabe der Natur ist, so kann es doch durch Uebung und Studium sehr gestärkt und allmählig zur Gewohnheit gemacht werden.

Wer das Glük hat, von Jugend auf mit Menschen von feinerm Gefühl und einer edlern Lebensart umzugehen, dessen Geschmak wird allmählig zu dem edlern gebildet. Wer aber von dem Glük diese Wolthat nicht erhalten hat, der muß desto aufmerksamer das Genie und den Geschmak der besten Werke der Kunst alter und neuer Völker studiren. Mit Vorbeygehung aller Schriftsteller und Künstler, die nur einen zufälligen Ruhm, aus irgend einem mechanischen Theil derselben, oder nur einen vorübergehenden Beyfall erhalten haben, muß er sich an die ersten und claßischen Männer jeder Art halten; an die, die nicht blos bey ihrer Nation, sondern bey allen Völkern, wo der Geschmak aufgekommen ist, für die ersten in ihrer Art gehalten werden. Für junge, noch ungebildete Genie, wenn die Natur sie nicht vorzüglich bedacht hat, ist es allemal gefährlich, gutes, mittelmäßiges und schlechtes durch einander zu lesen, oder zu sehen. Es gehört ein ausnehmendes Genie dazu, sich nach schlechten Mustern zu bilden, und gut zu werden.

Der deutsche Künstler hat vorzüglich nöthig, seinen Geschmak durch fleißiges Studium der Alten, und der größten Ausländer zu bilden. Hat Horaz seinen Römern sagen dürfen, daß sie die griechischen Muster nie aus den Händen lassen sollen, so kann auch ein Deutscher seine Mitbürger an fremde Schulen verweisen.

Man würde es vergeblich leugnen, daß Deutschland im Ganzen genommen, in Ansehung des Edlen in dem Geschmak, bis itzt noch weit, nicht nur hinter den Alten, sondern auch hinter mancher neuern Nation zurük bleibe. Dieser Mangel ist in den redenden Künsten noch weit fühlbarer, als in den andern. Die meisten Deutschen arbeiten für den Geschmak in den ersten Aufwallungen eines jugendlichen Genies, und hören zu der Zeit auf, da sie hätten anfangen sollen. Selten bekommt man das Gefühl des Edlen in den Hörsälen der Universitäten, und in dem Umgang mit der jüngern Welt, welche zu lebhaft empfindet, um immer fein zu wählen. Eine edlere Art zu denken und zu empfinden erlanget man insgemein erst alsdenn, wenn man alle Arten der sittlichen und ästhetischen Gegenstände vielfältig und sehr öfters vor Augen gehabt, und den verschiedenen Ton ähnlicher Gegenstände genau bemerkt hat.

Dieses sey nicht gesagt, um jemanden, der, noch nicht völlig reif, sich in redenden Künsten öffentlich gezeiget hat, zu tadeln oder zu beleidigen; denn die Absicht dieser Anmerkungen geht blos dahin, einigen unsrer schönen Geister diese wichtige Erinnerung zu geben, daß sie, da es ein Haupttheil ihres Berufs ist, einen edlen Geschmak und eine edle Sinnesart unter ihrer Nation auszubreiten, ein so wichtiges Werk nicht eher unternehmen sollen, bis sie selbst diese schönen Würkungen der Künste an ihren eigenen Gemüthern erfahren haben. Weder das Feuer des Genies, noch eine lebhafte Einbildungskraft, noch starke Empfindungen, sind dazu hinreichend. Das feine Gefühl der besten Art zu handeln und seine Empfindungen zu äussern, dieses Gefühl, das die, nie deutlich zu zeichnenden Gränzen, zwischen dem gemeinen und dem edlen, zwischen dem feinen und dem gröbern, zwischen dem gezwungenen und dem natürlichen, sicher empfindet, ist die Frucht eines langen und scharfen Nachdenkens, und eines sehr anhaltenden Beobachtungsgeistes.

Nirgend zeiget sich aber der Mangel des Edlen sichtbarer, als auf der deutschen Schaubühne, wo [289] es überaus selten ist, daß ein deutscher Patriot ohne roth zu werden, Leute von feinem Geschmak unter den Zuschauern erbliket; so sehr ofte fallen sowol die Dichter, als die Schauspieler in das gemeine, und wol gar in das pöbelhafte; oder auch in das verstiegene und in das kindische. Wir haben also sehr grosse Ursache, die alten und die besten der neuern Ausländer noch nicht von der Hand zu legen, sondern sie so lange zu Mustern zu nehmen, bis unser Geschmak eine reifere Ausbildung wird bekommen haben.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 288-290.
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288 | 289 | 290
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