Enharmonisch

[320] Enharmonisch. (Musik)

Hieß bey den Griechen die Tonleiter, in welcher das Tetrachord, oder die Quarte so getheilt war, daß die zwey ersten Intervalle kleiner, als halbe Töne waren. Nach dem Aristoxenus wurd der große halbe Ton, in unserm System z. E. H - c in zwey gleiche Theile getheilt, und die Quarte H - E, bestuhnd aus vier Tönen, davon die drey ersten zwey gleiche Intervalle von Vierteltönen, die zwey letzten aber einen Ditonus1 machten. Ptolomäus giebt folgende Verhältnisse für das enharmonische Tetrachord an, 45/46, 23/24, 4/5, das ist, wenn die Länge der tiefsten Sayte z. E. H, 1 gesetzt wird, so würden die vier Sayten des Tetrachords diese Längen haben:

Enharmonisch

Da wir in der heutigen Musik den Gesang nie durch so kleine Intervalle fortführen, so können wir auch nicht fühlen, was für Würkung ein solcher Gesang könne gehabt haben. Unser Ohr ist so sehr gewohnt den kleinen halben Ton für die kleinste Stufe der Fortschreitung zu halten, daß mancher sich einbildet, der enharmonische Gesang der Alten könne keine Deutlichkeit gehabt haben. Allein der Schluß ist nicht richtig. Das Ohr kann, wie andre Sinnen, durch Uebung eine Fertigkeit erlangen, auch die kleinesten Intervalle genau zu unterscheiden. Aristides Quintilianus sagt, daß der enharmonische Gesang der lieblichste gewesen sey, und Plutarchus verweißt es den Tonkünstlern seiner Zeit, daß sie die schönste von den drey Arten des Gesanges, das Enharmonische, haben in Abgang kommen lassen. Man sieht aus dem, was er davon sagt, daß schon zu seiner Zeit dieser Gesang für unmöglich gehalten worden2. Aristoxenus sagt, daß die Alten bis auf die Zeit des Alexanders sich blos an dieser Art gehalten, und das diatonische, wie das chromatische nicht geachtet haben. Ohne Zweifel war es sehr schweer, und die Sänger werden allein durch fleißige Uebung nach dem Monochord es dahin gebracht haben, diese kleinen Intervalle genau zu treffen.

Ob wir gleich in unsrer Musik das Enharmonische in dem Gesang verlohren, so haben wir etwas ähnliches, oder doch etwas, dem wir denselben Namen geben, in der Harmonie beybehalten, wo die enharmonischen Ausweichungen ofte gebraucht werden. Das Enharmonische in der heutigen Musik hat dieses sonderbare, daß es gewisser Maaßen nur in der Einbildung besteht, und dennoch große Würkung thun kann. Wir stellen uns vor, als wenn wir in unsrer Tonleiter die enharmonischen Intervalle haben, und geben einer Sayte in der Einbildung mehr als einen Ton, und brauchen dasselbe Intervall, z. E. gewisse kleine Terzen, einmal als Terzen und dann gleich darauf als Secunden, und machen auf diese Art enharmonische Ausweichungen.

Um dieses deutlich zu verstehen, muß man die Beschaffenheit unsers Systems vor Augen haben.3 Daraus erhellet, daß zwar jede Sayte desselben als eine Tonica oder als der Grundton, der seine völlige doppelte diatonische Tonleiter so wol der harten, als der weichen Tonart in dem System hat, angesehen werde. Weil wir aber dazu viel zu wenig Sayten haben, so ersetzen wir diesen Mangel dadurch, daß wir die vorhandenen Töne, wenn sie nicht zu weit von den eigentlichen, die wir nöthig haben, abweichen, auch an ihrer Stelle brauchen. So hat z. B. der Ton C zwar seine völlige diatonische Tonleiter in der harten Tonart, auf unserm System; hingegen fehlt es ihm zur weichen Tonart an der wahren kleinen Terz 5/6; an deren Stelle nehmen [320] wir die vierte Sayte unsers Systems, die reine Quarte des Tones B, ob sie gleich gegen C nur ein Intervall von 27/32 ausmacht, und also um ein Comma zu niedrig ist. Weil nun die große Terz zu C den Namen E führt, und die kleine durch b E bezeichnet, oder Es genennt wird, so hat die vierte Sayte unsers Systems zwey Namen, und heißt so wol Dis, als Es, und so ist es mit viel andern Intervallen beschaffen. Wenn man nun jeder der zwölf Sayten unsers Systems seine völlige harte und weiche Tonleiter geben wollte, so müßte man anstatt 12 Sayten in der Octav, 21 haben. Man behilft sich inzwischen mit den Zwölfen, giebt ihnen aber diese 21 Namen, weil 9 Sayten doppelte Namen haben, c, cis, des, d, dis, es, e, eis, fes, f, fis, ges, g, gis, as, a, ais, b, h, his, ces.

Insgemein nennt man dieses das diatonisch-chromatisch-enharmonische System: im Grund aber wär' es, wenn auch alle Sayten vorhanden wären, nichts, als ein aus 12 harten und eben so viel weichen in einander geschobenen diatonischen Tonleitern zusammen gesetzes System. Einige nennen die Töne, für die keine besondere Sayten im System sind, als des, es, fes u. s. f. enharmonische Töne, aber mit Unrecht, weil sie wahre diatonische Stufen einer Tonica sind. Nur die kleinere Fortschreitungen, die sie geben würden, werden enharmonische Fortschreitungen genennt.

Damit man deutlich begreiffe, wie in unsrer Musik, ob uns gleich die kleinen enharmonischen Intervalle würklich fehlen, dennoch enharmonische Fortrükungen möglich sind, muß man überhaupt bemerken, daß ein und eben derselbe Ton, nach Beschaffenheit der Harmonie, womit er verbunden ist, uns bald höher, bald tiefer vorkommt, weil das Gehör sich selbst täuscht. Wenn wir Cis im Dreyklang des Adur hören, so machen die übrigen Töne, daß es uns, wie die reine große Terz von A, und also wie wenn seine Sayte 12/25 wäre, klinget. Dieselbe Sayte, als die kleine Terz von B, scheinet uns auch rein zu klingen, als wenn ihre Länge 15/32 wäre. Aber jene Höhe macht mit dieser ein Intervall von 125/128 aus. Dieses ist das eigentliche enharmonische Intervall, um welches man das Ohr täuschen kann. Daher kommt es, daß folgende Fortschreitung

Enharmonisch

welche mit dieser völlig einerley ist:

Enharmonisch

durch richtige Behandlung der Harmonie, eine ganz andre Würkung thut, als die letztere, und fast eben die, die sie thun würde, wenn unser System die kleinen enharmonischen Intervalle würklich hätte.

Es kommt also nur darauf an, daß der Tonsetzer die rechte Behandlung solcher enharmonischer Fortschreitungen verstehe. Da diese Materie insgemein von den Tonlehrern sehr kurz und dunkel vorgetragen wird, so ist nöthig, um die Sache aus den ersten Gründen herzuholen, daß wir hierüber uns etwas umständlich einlassen.

Wenn man, auf welchem Ton es sey, den Septimenaccord mit der kleinen None nimmt, so hat dieser Accord die sonderbare Eigenschaft, daß, da er aus vier über einander liegenden kleinen Terzen besteht, er auch vier verschiedene wahre Grundtöne haben kann, deren jeder, als die Dominante eines Tones, kann angesehen werden, in welchen man durch die Auflösung der Dissonanzen unmittelbar schliessen kann; und darin liegt der Grund der enharmonischen Fortrükungen und Ausweichungen. Um dieses deutlich zu verstehen, betrachte man folgende vier Accorde.

Enharmonisch

Alle diese Accorde sind in den obern Stimmen gleich, sie bestehen aus denselbigen Sayten; nur bekommen sie in andern Accorden andre Namen. Was im ersten und vierten Accord b ist, ist im zweyten und dritten das erhöhte a, oder ais; was im ersten und zweyten Accord cis ist, ist im vierten des, oder das erniedrigte d u. s. f.

Weil nun im Septimenaccord auf der Dominante die große Terz allemal das Subsemitonium der Tonica ist, dahin man schliessen kann, so darf man nur jeden der vier obern Töne des ersten Accords, als die große Terz eines Grundtones ansehen, um [321] die vier verschiedenen Grundtöne zu diesem Accord zu finden. Im ersten Accord ist es Cis, folglich ist der Grundton A; im andern Accord ist es ais, folglich der Grundton Fis; im dritten wird G als die große Terz angesehen, das hier als ein erhöhtes fis angesehen wird, oder ( f, folglich ist der Grundton Dis; im vierten endlich wird e als die große Terz angesehen, daher der Grundton C wird.

Hieraus ist offenbar, daß dieser Accord

Enharmonisch

ein Septnonenaccord vier verschiedener Grundtöne seyn kann, des A, des C, des Dis und des Fis. Folglich kann man aus diesem einen Accord in viererley Töne schliessen. Als Septimenaccord von A, schließt man daraus nach D mol; als Septimenaccord von C, nach F mol; als Septimenaccord von Dis, nach Gis mol; als Septimenaccord von Fis, nach H mol.4

Da nun aber die obern Töne in allen vier Fällen dieselben bleiben, so kann man mit einer kleinen Veränderung aus einem Ton anstatt in seine eigene Tonica zu schliessen, in die Tonica eines der drey andern schliessen, also z. E. aus A in H, wie hier.

Enharmonisch

Der erste Accord ist eigentlich der Septnonenaccord von A in seiner ersten Verwechslung,5 wo die gewesene kleine None zur kleinen Septime wird. Weil nun eben diese Harmonie, wenn man nur den Tönen andre Namen giebt, auch auf den Grundton Fis paßen kann, so nihmt man im zweyten Accord die zweyte Verwechslung des Accords Fis, damit im Baße cis liegen bleiben könne; und nun geschieht der Schluß durch die ordentlichen Auflösungen in H.

Durch die im zweyten Accord mit der Sayte b vorgenommene Veränderung ist sie, da sie im ersten Accord die Septime war, die unter sich nach a hätte gehen müssen, zur übermäßigen Sexte worden, die nun über sich in h tritt. Dieses ist also ein enharmonischer Uebergang, dessen Wesen darin besteht, daß eine Dissonanz in zwey hinter einander folgenden Accorden, in zweyerley Gestalt erscheint, und dadurch ihre Natur so ändert, daß sie eine andre Auflösung, wodurch man auch in einen ganz andern Ton schliessen kann, bekommt.

So hätte man auch durch eine andre enharmonische Veränderung aus A den Schluß in Gis mol machen können; nämlich auf diese Art:

Enharmonisch

da im zweyten Accord, wo Dis der eigentliche Grundton ist, dessen dritte Verwechslung6 genommen wird. Hier wird, was im ersten Accord g war, als ein erhöhtes fis angesehen, und wird dadurch zum Subsemitonio der Octave des folgenden Grundtones.

Man wird also von der wahren Beschaffenheit der enharmonischen Gänge einen richtigen Begriff bekommen, wenn man sie als solche, mit einem Accord, ohne seine Sayten auf dem Clavier zu verändern, vorgenommene Abänderungen ansieht, wodurch er tüchtig wird, den Schluß in einen andern Ton zu lenken, welches ohne diese Veränderung nicht hätte geschehen können. Wenn also dieses

Enharmonisch

ein ordentlicher Schluß nach C mol wäre; so wird durch die, in dem hiernächst stehenden Beyspiel im dritten Accord vorgenommene enharmonische Veränderung der Schluß nach A mol bewürkt.

Enharmonisch

[322] Ueberhaupt also entstehen die enharmonischen Gänge aus einer Verwechslung des Septnonenaccordes, darin die None bis in die folgende Harmonie liegen bleibt und dort eine enharmonische Rükung thut, wodurch sie zum Intervall, meistentheils zum Subsemitonio, einer andern Tonart wird, in welche der Schluß geschieht. Also ist in dem mit A bezeichneten Beyspiel, der erste Accord die erste Verwechslung des Accords der Septime und None auf A, da die gewesene None nun die Septime wird. Anstatt, daß diese, nach der gewöhnlichen Art der None, auf derselben Harmonie sich auflösen sollte7, bleibet sie bis auf die folgende Harmonie liegen, wo sie itzt durch die kleine enharmonische Verändrung des b in ais zur übermäßigen Sexte wird, und als Subsemitonium des nächsten Tones im folgenden Accord in die Höhe tritt.

In dem mit B bezeichneten Beyspiel, ist der erste Accord, wie in dem vorhergehenden die erste Verwechslung des Accords A; die kleine Septime oder gewesene None, bleibt ebenfalls liegen, und wird auf dem nächsten Accord durch dieselbe enharmonische Veränderung zur großen Sexte, und was G war, wird nun als ein erhöhtes Fis angesehen. Hier ist der eigentliche Grundton Dis mit der Septime, die durch die dritte Verwechslung in den Baß gekommen ist.

In dem dritten Beyspiel C, ist der eigentliche Grundton des zweyten Accords der Ton G, dessen kleine None der oberste Ton as ist, und dessen Septime in den Baß gesetzt worden. In dem nächsten Accord wird dieses as in gis verwandelt, wodurch es zum Subsemitonio der Octave des nächsten Haupttones wird.

Da bey allen diesen enharmonischen Gängen der ursprüngliche Septnonenaccord nie selbst, sondern immer in einer Verwechslung genommen wird, so kann die None ihren Namen nicht behalten, und wird in der ersten Verwechslung des Accords zur kleinen Septime. Dadurch ist Roußeau8 verführt worden, diesen Accord der kleinen Septime für einen Grundaccord zu halten, und es zu übersehen, daß die Septime darin nur ein Vorhalt der Sexte ist, die aus einem verwechselten Nonenaccord kommt. Die wahre Septime, die wir auch die wesentliche nennen9, ist von der Natur, daß die Harmonie von dem Accord, wo sie sich befindet, allemal fünf Töne fallen oder vier Töne steigen muß, wie an seinem Orte bewiesen wird.

Es ist oben angemerkt worden, daß auf unsern Clavieren und Orgeln die enharmonischen Rükungen nicht fühlbar sind, in dem z. B. gis und as nur eine Sayte, oder nur eine Pfeiffe haben. Dieses hindert aber nicht, daß man die kleine Rükung um das Intervall 125/128 wegen des Einflusses der übrigen zur Harmonie gehörigen Töne, nicht empfinden sollte. Diese Empfindung ist so gewiß, daß gute Sänger eine würkliche Rükung in der Stimme machen. Wenn ein Sänger, da er den Grundton F hört, die kleine Terz as dazu singt, hernach aber im Baß anstatt F, der Ton E mit der reinen Quinte h genommen wird, so ist ihm nicht möglich das as noch länger beyzubehalten. Es macht gegen E eine verminderte Quarte, und gegen h, womit sein Ohr gerührt wird, eine übermäßige Secunde: dieses bewegt ihn einen so übel harmonirenden Ton fahren zu lassen und gis, als die reine Terz von E zu nehmen. Also geschieht eine würkliche kleine enharmonische Rükung in seiner Stimme, und eben dieses thun auch die guten Spieler.

Aus der Entwiklung der eigentlichen Beschaffenheit der enharmonischen Uebergänge läßt sich schon abnehmen, wo sie können gebraucht werden. Nämlich (1 da, wo man plötzlich von einem Ton in einen sehr entfernten, oder sehr abstechenden, ausweichen muß, wie in Recitativen ofte geschieht, da eine Person etwas fröhliches sagt, und unversehens von einer andern, die etwas verdrießliches anzubringen hat, unterbrochen wird. (2 In dem Gesang selbst, beym Ausdruk solcher Leidenschaften, die etwas schmerzhaftes haben, oder schnell eine andre Wendung nehmen.

1S. Ditonus.
2S. Plut. von der Musik c. 17.
3S. System.
4S. Cadenz und Ausweichung.
5S. Verwechslung oder Dreyklang.
6Nämlich da die Septime in dem Baß kommt. S. Septimenaccord.
7S. Vorhalt.
8Diction. Art. Enharmon .
9S. Septime.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 320-323.
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