Euripides

[355] Euripides.

Ein tragischer Dichter in Athen, der jüngste von den dreyen, von denen wir noch ganze Trauerspiele haben. Er ist um die 75 Olympias oder die Zeit gebohren, da die Athenienser ihre große Siege über den Xerxes erfochten haben. Sein Vater soll ihn erst zu den Leibesübungen erzogen haben, welche von den Atheniensern Pankratia genennt worden, und erst, nachdem er in öffentlichen Spielen dieser Leibesübungen den Sieg erhalten, soll er sich auf die Beredsamkeit und Dichtkunst gelegt haben. Er hörte den Anaxagoras in der Weltweißheit, und war auch einer von den würdigsten Schülern des Sokrates. Er hat in allem 92 dramatische Stüke verfertiget, darunter acht satyrisch, die andern tragisch gewesen. Von den erstern ist nur eins, nämlich der Cyklops, auf uns gekommen, von den andern aber haben wir noch achtzehn ganze Stüke. Er hat funfzehnmal den Preis der dramatischen Dichtkunst erhalten. Man sagt, er habe aus Verdruß über die schlechte Aufführung seiner zweyten Frauen Athen verlassen, und sich zu dem Macedonischen König Archelaus begeben, und sey in Macedonien, da er in einem Wald zu der Zeit spazieren gegangen, als Archelaus auf die Jagd gekommen, von dessen Hunden in seinem siebzigsten Jahr zerrissen worden.

Aristoteles räumet ihm unter allen Dichtern, in Absicht auf das tragische oder traurigmachende in seinen Vorstellungen, den ersten Platz ein. Er ist in Ansehung der Größe in den Charaktern seiner handelnden Personen, weit hinter dem Aeschylus zurük. In Ansehung der Regelmäßigkeit seiner Trauerspiele, und der Einfalt der Vorstellung, so wie in Ansehung des Großen, ist er auch dem Sophokles nachzusetzen. Er hat sich wenig Mühe gegeben den Plan seiner [355] Fabeln vollkommen zu machen, und in besondern Fällen scheinet er sich weniger bekümmert zu haben, ob die Reden den Personen, der Zeit und den Umständen angemessen seyen, wenn sie nur etwas lehrreiches enthielten. Aber sein nachläßiges Wesen hat, wie der P. Brümoy wol anmerkt, einen Reiz, der der Regelmäßigkeit des Sophokles die Waage hält. Er hielt sich mehr an die Natur, als an die Kunst, und indem er schrieb, zog er mehr sein empfindendes Herz, als seinen Verstand zu rathe.

Wenn seine Personen uns nicht so oft in Bewundrung ihrer Größe setzen, als des Aeschylus seine, und nicht so männlich sind, als sie Sophokles vorstellt, so empfinden sie Glük und Unglük stärker, und drüken ihre Empfindungen so aus, daß sie in die verborgensten Winkel unsers Herzens dringen und uns zum höchsten Mitleiden bewegen. Er zeichnet uns mehr würklich in der Natur vorhandene als idealische, oder erhöhete Charaktere, aber seine Zeichnungen sind meisterhaft.

In Erfindung tragischer Umständen und trauriger Zufälle, ist er bis zur Verschwendung reich. Von allem dem, was einen Menschen bis zur traurigsten Empfindung rühren kann, scheinet ihm nichts entgangen zu seyn. Die zärtlichen Sayten des Herzens weiß er alle zu treffen, und ihr Spiel bis auf den höchsten Grad zu treiben. Er erwekt weit mehr zärtliches Mitleiden und Liebe für die handelnden Personen, als Hochachtung. Das Schrekliche und Große hat er nicht gesucht, oder nicht zu erreichen vermocht; wiewol er sich auch bisweilen bis zum Erhabenen in den Beschreibungen und bis zum heroisch zärtlichen der Empfindungen schwingt. Von dem erstern geben die Wunder, die Bacchus in Theben thut, in seinen Bacchantinen einen Beweis, von dem andern wollen wir ein Paar Beyspiele hier anbringen.

Als die Herakliden in der äussersten Gefahr waren, dem Tyrannen Eurysthäus in die Hände zufallen und von ihm ermordet zu werden, sagt das Orakel dem Demopheon, es sey keine Rettung übrig, als wenn eine Jungfrau von edlem Blute den Göttern geopfert werde. Macaria, eine Tochter des Herkules, hört dieses von dem Jolaus und sagt ihm:

Ist dann dieses das einzige Mittel zu unsrer Errettung. Jol. Das einzige, denn im übrigen würden wir ganz glüklich seyn. Mac. So fürchte nur das feindliche Heer der Argiver nicht länger. Nämlich so bald Macaria hört, daß sie durch einen freywilligen Tod die ihrigen retten können, steht sie nicht einen Augenblick an, ihr Leben anzubieten.

In demselben Stük legt der Dichter dem alten Jolaus einen großmüthigen Gedanken bey. Alcmene will ihn abhalten in die Schlacht zu gehen, durch welche die Herakliden sollten frey werden. Sie fürchtet, er möchte darin umkommen, und ihre Kinder würden alsdenn ihres besten Beschützers beraubet seyn. Er giebt ihr aber diese großmüthige Antwort. Des Herkules Söhne werden die Sorge aller deren seyn, die am Leben bleiben werden, wodurch er nicht allein die Geringschätzung seines eigenen Lebens, sondern den großen Eindruk, den die Verdienste des Herkules bey den Griechen gemacht, auf das edelste ausdrükt.

Uebrigens zeiget sich dieser zärtliche Dichter überall, als einen würdigen Schüler des großen Sokrates, der die Sache der Wahrheit und Tugend überall verficht. Die Sittensprüche, welche er häufig anbringt, gäben eine Sammlung der vornehmsten Lehren der Weltweisheit, so daß man gar deutlich bemerket, er habe es sich als einen Hauptzwek vorgesetzt, die Zuschauer in allem Wahren und Guten zu unterrichten. Er hatte Herz genug den Aberglauben und die falsche Götterlehre seiner Zeit mit sokratischer Stärke anzugreifen. In seiner Helena legt er einem Boten folgende Worte in den Mund1. »Ich sehe, wie elend lügenhaft das ganze Wesen der Wahrsager ist. Weder in der Flamme des Feuers, noch in der Stimme der Vögel liegt etwas heilsames für den Menschen, und es ist thöricht nur zu vermuthen, daß die Vögel uns zu Hülfe kommen. – Warum lassen wir uns denn wahr sagen? Lasset uns durch Opfer gutes von den Göttern erbitten und den Wahrsagungen Abschied geben. Noch ist kein Fauler durch die Wahrsagung reich geworden. Klugheit und guter Rath sind die besten Wahrsager. – – – Wer die Götter zu Freunden hat, der besitzt die beste Wahrsagerkunst

Eben so kühn redet er wider die unsittliche Götterlehre seiner Zeit. In dem Trauerspiel Jon sagt dieser Jüngling zum Apollo: Wie kann dieses recht seyn, daß ihr, die den Sterblichen Gesetze geben, [356] selbst unsittlich seyd? Denn wenn diese Geschichten wahr seyn sollten, so werdet ihr von den Sterblichen wegen gewaltsamen Entführungen zur Strafe gefodert werden, du und Neptun und Jupiter, der im Himmel herrscht. – – – Es wäre nicht billig die Menschen in den Fällen anzuklagen, da sie nur die Schandthaten der Götter nachahmen, sondern diese, die die Beyspiele gegeben haben. Seine Götterlehre ist den unverfälschten Einsichten gemäß. Folgendes ist ein fürtreffliches Beyspiel davon. Was ist der Reichthum des Thrones? sagt Jocaste in den Phönizierinnen, – – Alle Reichthümer gehören eigentlich nur den Göttern zu, die Menschen sind blos die Verwalter und Austheiler derselben. Sie nehmen sie wieder, so oft es ihnen beliebt.

Es wäre leicht, eben so herrliche Lehren und Wahrheiten über alle wichtigen Punkte der Sittenlehre aus diesem philosophischen Dichter anzuführen. Doch müssen wir dabey auch bemerken, daß ihn die Liebe zu moralischen Sprüchen ofte zur Unzeit übernommen hat. Er bringt sie ofte so an, daß man die handelnde Person, der sie in Mund gelegt werden, aus dem Gesichte verliert und nur den Dichter erblikt. Daher werden dergleichen Sprüche in dem Mund der Person oft unwahrscheinlich. Wie wenig sorgfältig er über diesen Punkt gewesen, kann folgende Stelle hinlänglich zeigen. In der Tragedie, die er die um Schutz flehenden betitelt, fällt Adrast dem Theseus zu Füßen und sagt unter andern: der, welcher im Wolstand ist, sieht, wenn er Verstand hat, auf die Armuth – (die Absicht des Dichters ist zu sagen, daß man müsse durch den Gegenstand gerührt seyn, um demselben gemäß zu handeln,) so wie es nöthig ist, daß der Dichter, wenn er Lieder macht, es mit Lust thue; denn wenn er nicht in der Lust ist und zu Hause Verdruß hat, so kann er andre nicht vergnügen.2

Man sieht überhaupt aus jedem Trauerspiel dieses fürtrefflichen Mannes, daß er ein ernsthafter, zärtlicher und etwas melancholischer Dichter gewesen. Man sagt, daß er in seinem Hause viel Betrübnis und Verdruß gehabt, und es war ihm ohne Zweifel damals, als er das Trauerspiel, woraus wir die letzte Stelle angeführt haben, geschrieben hat, etwas von dieser Art begegnet. Er fand daher in tragischen Vorstellungen und im klagenden Ton seine Lust. Sein Herz war äusserst zärtlich, der Freude wenig offen, und seine Gemüthsart etwas verdrießlich. Man giebt ausser dem natürlichen Hang des Temperaments, auch verschiedene Umstände an, die ihn dazu können gebracht haben. Er soll auf einer Reise eine Gemahlin, die er zärtlich geliebet, zwey Söhne und eine Tochter durch unvorsichtiges Essen giftiger Pilse, verlohren haben.3 Andere sagen auch, er habe eine zweyte Frau gehabt, deren üble Aufführung ihm den höchsten Verdruß gemacht. Und dieses wird dadurch wahrscheinlich, daß er nicht leicht eine Gelegenheit vorbey gehen läßt, seine wenige Achtung für das weibliche Geschlecht an den Tag zu legen. Diese Materie scheinet sein Lieblingstext zu seyn, so daß er bisweilen recht anstößig dadurch wird. In Bezeichnung der Charaktere ist er der Natur getreu, wiewol er sie nicht aus der heroischen, sondern mehr aus der gemeinen Natur nihmt. Er zeichnet aber meisterhaft und mit wenigen Zügen. Die Reden der Personen, wenn man an einigen Orten seine übertriebene Liebe zu Sittensprüchen ausnimmt, sind insgemein höchst natürlich, den Sachen, Umständen und Personen sehr angemessen. Er zeiget darin eine recht große Beredsamkeit, das Schicklichste auf die beste, und oft nachdrüklichste Weise zu sagen. Ich kann mich nicht enthalten nur eine Probe hievon zu geben. Als Herkules von der Wuth, darin er seine Kinder umgebracht hat, wieder zu sich selbst gekommen, und voll schwarzen Grams sich verlauten läßt, daß er sich selbst umbringen wolle, sagt Theseus zu ihm: Du redest wie einer aus dem Pöbel. Sagt dieses Herkules, der schon so viel überstanden hat, der Wolthäter der Menschen und ihr größter Freund?

In der Mechanik der Trauerspiele hat Euripides sehr viel weniger Einfalt als Aeschylus und Sophokles. Es ist insgemein viel Mannigfaltigkeit und Verwiklung in den Vorfällen. Die genaueste Beobachtung der Einheit in Ansehung der Zeit und des Orts hat er nicht so hoch geachtet, als die andern, deswegen ist auch nicht alles von so großer Wahrscheinlichkeit. In seiner Andromache geht Orestes von Phthia nach Delphi, bringt daselbst den Neoptolem um, und ein Bote kommt daher wieder nach Phthia, es zu sagen. Dies alles geschieht in der Zeit, da der Chor wenige Strophen singt. Eben so wenig streng ist er in Beobachtung des Ueblichen oder des Costume. Er läßt in dem Hippolytus die Hofmeisterin der Phädra sagen: Es sey nichts [357] vollkommenes in der Welt und selbst die Gebäude der besten Meister haben immer noch ihre Fehler; als wenn man zur Zeit des Theseus schon sehr über die Schönheiten der Baukunst raffinirt hätte. Und es schmekt weit mehr nach dem Zeitalter des Euripides, als des Theseus, wenn Hippolytus sagt, er habe immer so keusch gelebt, daß er nicht einmal die schlüpfrigen Gemählde anzusehen gewohnt sey. Er ist der erste und von den übrig gebliebenen tragischen Dichtern der einzige, der seine Trauerspiele mit einer besondern Art Eingang anfängt, darin eine der handelnden Personen die Zuschauer von dem Inhalt des Stüks unterrichtet, und mit einigen der Personen bekannt macht. Und hierin hat er ofte so wol die Wahrscheinlichkeit überschritten, als zu viel gesagt.

In der Schreibart reicht er weder an die Hoheit des Aeschylus noch an den körnichten, männlichen und feurigen Ausdruk des Sophokles. Aber er ist überall angenehm, herzrührend, und, besonders in klagenden und zärtlichen Stellen, höchst beredt. Fast überall ist er, so weit wir von dem griechischen Vers urtheilen können, sehr wolklingend und überaus besorgt, den Klang des Verses so wol, als einzeler Worte, dem besondern Inhalt der Materie gemäß einzurichten. Kurz seine Tragedien sind eines der kostbarsten Ueberbleibsel des Alterthums, welche man niemal genug lesen kann. Unter den Neuern hat Racine ihn stark nachgeahmt, und besonders seine zärtlichen Scenen, so oft es die Gelegenheit gab, sich sehr zu nutze gemacht.

1Hel. vs. 750 f. f.
2Ικετιδ. vs. 180 f. f.
3Athen L. II.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 355-358.
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