Form (Zeichnende Künste)

[394] Form. (Zeichnende Künste)

In dem allgemeinesten figürlichen Sinn bedeutet dieses Wort die Art, wie das Mannigfaltige in einem Gegenstand in ein Ganzes verbunden ist; folglich die besondere Art der Zusammensetzung. Hier wird aber die Form nur, in so fern sie sichtbar ist, betrachtet, nämlich als die Gestalt körperlicher Gegenstände: [394] man sagt in diesem Sinn, ein Gefäß habe eine schöne Form. Von solchen Gegenständen hat man das Wort in der Sprache der Künste, auch auf die menschliche Gestalt angewendet; so sagt man z. B. Michel Angelo habe in seinen Werken auf große Formen gesehen, und versteht durch diese Formen auch die Gestalt der Figuren von menschlicher Bildung.

Die Formen sind wegen der mannigfaltigen ästhetischen Kraft, die sie haben, der hauptsächlichste Gegenstand der zeichnenden Künste, und verdienen deswegen nach ihren Hauptgattungen betrachtet zu werden. Wir merken demnach an, daß es dreyerley Gattungen der Formen giebt; solche, die eine blos körperliche Schönheit haben; hernach solche, in denen körperliche Schönheit mit Schiklichkeit und Tüchtigkeit verbunden ist; und endlich auch solche, in denen ausser der körperlichen Schönheit und Schiklichkeit, auch sittliche Kraft liegt. Zur ersten Gattung gehören alle Figuren und Körper, die regelmäßig sind, aber keine besondere Bestimmung haben; zur andern Classe regelmäßige Körper, deren Gestalt durch eine besondere Bestimmung ihre Einschränkung bekömmt; und zur dritten die, in denen ausser den vorhergehenden Eigenschaften noch inneres Leben und sittliche Würksamkeit entdekt wird.

Es kommen uns mannigfaltige Figuren und Körper vor, von deren Natur und Endzwek wir nichts erkennen; die uns aber doch gefallen oder mißfallen, blos in so fern sie eine Figur haben. Unter den Steinen, welche auf den Feldern zerstreuet sind, ziehen die, deren Figur eine merkliche Regelmäßigkeit hat, unser Aug auf sich, und wenn wir die in der Luft zerstreueten Wolken sehen, so sind wir aufmerksam und vergnügen uns, so ofte wir in ihren Figuren und in ihren verschiedenen Gruppirungen etwas regelmäßiges entdeken. Wir schreiben ihnen in so fern eine Schönheit zu, die aber blos darin besteht, daß ihre Form faßlich ist, daß wir uns einen mehr oder weniger klaren und deutlichen Begriff davon machen können. Sie haben die blos todte Schönheit, die, wie die Philosophen bemerkt haben, aus Einheit und Mannigfaltigkeit entsteht.

Dieses ist die geringste Gattung der Formen, von welcher aber die zeichnenden Künste einen starken Gebrauch machen. Sie hat der Baumeister zur Absicht, wenn er die Déken der Zimmer mit Feldern, und die Fußboden mit künstlichem Tafelwerk verziert; und der Mahler, wenn er seine Figuren wol gruppirt, und alles in regelmäßige Massen anordnet. Diese Formen würken ein bloßes Gefallen, oder eine Zufriedenheit des Auges.

Wenn aber diese Schönheit zugleich mit Schiklichkeit und Tüchtigkeit verbunden wird, so bekömmt die Form schon eine lebhaftere Kraft. Wir können die Säulen der Baukunst zum Beyspiel anführen. Das Verhältnis ihrer Höhe zur Dike und die Einziehung oder allmählige Verdünnerung des Stammes, daß sie einen Fuß und Knauff haben, daß der unterste Theil des Fußes eine vierekigte Platte, und der oberste Theil des Knauffs eine Tafel ist, und mehr solche Dinge gehören zum Schiklichen und Tüchtigen; denn durch diese Eigenschaften wird die Säule tüchtig zu tragen, was sie zu tragen hat. So ist in einem schönen Gefäß, in einer schönen Vase, blos körperliche Schönheit mit Tüchtigkeit verbunden, wenn die Form zum Gebrauch, den man davon macht, völlig schiklich ist, oder ihn erleichtert. So sind unsre Trinkgläser, da ein kleiner conischer Bächer auf einem dünnen zum Anfassen bequämen, und unten mit einem breiten Fuß versehenen Stamm steht. Die körperliche Schönheit mit Schiklichkeit oder Tüchtigkeit verbunden, sehen wir überall in den Formen der Pflanzen und der Thiere, und wir vermissen sie gar oft in den Werken der Kunst, wo die Zierrathen ohne Beurtheilung angebracht werden, wie bey Messern, deren Hefte so wunderlich gestaltet sind, daß man sie nicht fest anfassen, oder mit so viel ekigten Zierrathen versehen sind, daß man sie ohne sich zu verwunden nicht lange fest halten kann.

Gute Formen von der zweyten Art können einen großen Grad des Vergnügens erweken. Das Pflanzen-und Thierreich ist voll von solchen Formen, die man nicht ohne inniges Vergnügen betrachten kann. In den schönen Künsten zeiget die Baukunst manche Schönheit dieser Art. Eine nach dem guten Geschmak der Griechen gebauete Säulenordnung zeiget uns das Schöne mit dem Tüchtigen und Schiklichen in der engesten Verbindung. Was kann fester, besser zusammengefügt, zu seinem Endzwek schiklicher, zugleich aber regelmäßiger seyn, als jeder Theil der dorischen Ordnung? Durch eine glükliche Vereinigung des Schönen mit dem Tüchtigen und Schiklichen, werden auch Werke der mechanischen Künste zu Werken des Geschmaks, und der Goldschmidt, [395] der Juvelierer, und so gar Handwerker von der niedrigsten Classe können sich dadurch bis zum Rang der Künstler erheben, so wie im Gegentheil Künstler unter den Handwerksmann sinken, wenn sie durch abgeschmakte Zierrathen so gar, was zur Tüchtigkeit am wesentlichsten gehört, zerstöhren1; wie der wunderliche Mensch in Frankreich, der vor einiger Zeit ein Gebäude in Form eines Rhinoceros hat aufführen wollen.

Die wichtigsten Formen, deren Schönheit bis ins Erhabene hinaufsteiget, sind die, in denen Schönheit mit Schiklichkeit und sittlichem Wesen vereiniget ist, wo die Materie ein Ausdruk geistlicher Kräfte wird; Seelen in sichtbarer Gestalt. Diese fangen schon in dem Thierreich an, und erheben sich allmählig durch unendlich viel Grade bis zum höchsten Ideal der menschlichen Schönheit, als dem äussersten, das Menschen zu erreichen möglich ist. Die Natur und Kraft dieser Form, die auch schlechthin die Schönheit, das ist, das höchste Schöne genennt wird, ist wegen der Wichtigkeit der Sache in einem besondern Artikel ausführlich entwikelt worden2.

Man muß in den zeichnenden Künsten, so oft als von Formen die Red ist, an den Unterschied dieser drey Gattungen der Formen gedenken; denn unter gleichen Namen werden sehr ungleiche Dinge ausgedrükt. Wenn von Schönheit der Formen gesprochen wird, so kömmt es sehr viel darauf an, zu welcher Gattung sie gehören.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 394-396.
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