Dieses Wort hat in der Musik, als ein Kunstwort, eine doppelte Bedeutung; es wird gebraucht von der Folge der Töne in einer einzigen Stimme, dieses ist die melodische Fortschreitung; oder von der Folge der Töne in mehrern Stimmen zugleich, in Absicht auf die Reinigkeit der daher entstehenden Harmonie, dieses ist die harmonische Fortschreitung. Jede erfodert eine besondere Betrachtung.
Von der melodischen Fortschreitung. In Absicht auf eine einzige Melodie muß die Fortschreitung leicht und natürlich, nämlich fließend und dem Ausdruck angemeßen seyn, und alle, diesen Eigenschaften schädlichen Fehler, müssen vermieden werden. Dieses zu erhalten, hat der Tonsetzer verschiedenes in Acht zu nehmen, das wir anzeigen wollen.
1. Alle Dißonanzen müssen vorbereitet und aufgelöst werden, es sey denn, daß sie im Durchgang vorkommen, weil ohne dieses der Gesang sehr schweer wird. Es ist eine bekannte Sache, daß consonirende Intervalle im Singen leichter zu treffen sind, als dißonirende. Wenn also eine Dißonanz vorkommen soll, so würde die Fortschreitung von dem vorhergehenden Ton auf dieselbe schweer seyn, wenn sie nicht durch die Vorbereitung erleichtert würde. Man sehe folgende Beyspiele.
In dem ersten a wird das Gehör des Sängers von dem Grundton G eingenommen, und kann den ersten Ton, als dessen Quinte leicht treffen; nach diesem aber soll er die Septime nehmen. Dieses würde sehr schweer seyn, wenn beyde Töne, wie bey c zugleich einträten. Da aber der Grundton G liegen bleibt, dessen Octave, die hier mit einem Punkt angezeiget wird, das Gehör auch vernihmt, so wird die Septime itzt einigermaaßen, wie ein Durchgang von g nach e, und folglich leicht zu treffen. Eben so wird in dem zweyten Beyspiel b, die Septime dadurch leichte, daß sie, als die Octave des vorhergehenden Tones nur liegen bleibt, und also zu G nicht erst darf gesucht werden. Also wird die Fortschreitung, wo Dißonanzen vorkommen, durch die Vorbereitung derselben erleichtert. Durch die Auflösung aber wird das Fortschreiten zu dem Ton, der auf die Dißonanz folget, erleichtert, weil dadurch die Ordnung wieder hergestellt wird. Jederman empfindet es, daß man auf keiner Dißonanz stehen bleiben kann, und daß sie zum voraus das Gefühl der nächsten Consonanz erwekt, daher man sehr leicht von der Dißonanz auf dieselbe kömmt. Es ist nicht möglich, auf der Secunde oder Septime stehen zu bleiben. Die erste leitet wieder auf den Unisonus oder auf die Terz, die andre auf die Octave oder auf die Sexte.
2. Auch sind dißonirende Sprünge in der melodischen Fortschreitung zu vermeiden, wie z. E. der Sprung in den Tritonus, in die falsche Quinte u. s. f., weil sie schweer zu treffen sind.
3. Auch Sprünge durch consonirende Intervalle sind in der Fortschreitung zu vermeiden, wenn der Grundton dem einen Intervall entgegen ist. Nichts ist leichter, als um eine reine Terz zu steigen, oder zu fallen; wenn aber die Terz, in die man steigen will, mit dem Grundton nicht harmonirt, so versucht man diesen, sonst leichten Sprung, vergeblich. So könnte in folgender Stelle:
kein Mensch den Sprung von d nach h thun, wenn der Baß so wäre, wie er hier angezeiget ist.
4. Auch ist jeder Sprung auf einen Ton ausser der diatonischen Leiter der Tonart, darin man ist, [398] zu vermeiden, so lange das Gehör von dieser Tonart eingenommen ist. So ist die kleine Terz des Grundtones nicht wol zu treffen, so lange das Gehör von der harten Tonart eingenommen ist, oder umgekehrt. Daher können solche, ausser der Tonart liegende Töne, wenn sie sonst gleich mit dem vorhergehenden consoniren, nicht anders, als im Durchgang genommen werden, weil sie da leicht zu treffen sind. Bey Ausweichungen, bey chromatischen und enharmonischen Gängen kommen zwar diese fremden Töne vor, alsdann aber ist auch der Gesang würklich schweerer; hier ist von der Fortschreitung die Rede, wodurch der Gesang die höchste Leichtigkeit erhält.
Dieses sind die Hauptregeln zur Leichtigkeit des Gesanges.
Die melodische Fortschreitung muß aber auch dem Ausdruk oder Charakter des Stüks angemessen seyn. Sie kann zwey einander entgegenstehende Charaktere annehmen, nämlich hüpfend, oder sanft fortfließend seyn. Diese entgegenstehenden Eigenschaften haben auch die Leidenschaften: Zorn und Unwillen, auch die Freude sind hüpfend, da hingegen alle sanften Empfindungen etwas Fließendes haben. Also müssen die Fortschreitungen der Melodie damit übereinkommen.
Von der harmonischen Fortschreitung. Man kann diese auch in zweyerley Absichten betrachten, nämlich in so fern die Harmonie dadurch rein, und in so fern sie fließend wird. Durch die reine Harmonie verstehen wir hier die, darin alle verbotenen Quinten und Octaven, sie seyen offenbar oder verdekt, vermieden werden; und durch eine fließende Harmonie diejenige, in welcher die Accorde in einem engen Zusammenhang sind, der nichts hartes hat. Diese beyden Eigenschaften der harmonischen Fortschreitung sind näher zu betrachten.
Die Tonlehrer haben einige mechanische Regeln gegeben, wodurch die Fortschreitung sicher geschehen kann, ohne die Reinigkeit der Harmonie zu bestecken. Diese sind die Regeln von den drey Bewegungen1.
Die erste Regel: Von einer vollkommenen Consonanz zu einer andern vollkommenen Consonanz muß man nie durch die gerade Bewegung gehen, weil dadurch Octaven und Quinten entstehen, wie in diesem Beyspiel:
Die zweyte Regel: Von einer vollkommenen Consonanz zu einer unvollkommenen kann man durch alle Arten der Bewegung gehen.
Die dritte Regel: Von einer unvollkommenen Consonanz zu einer vollkommenen, muß man nie durch die gerade Bewegung gehen.
Die vierte Regel: Von einer unvollkommenen Consonanz zu einer andern unvollkommenen, kann man durch alle Arten der Bewegung gehen.
Wenn diese Regeln beobachtet werden, so vermeidet man das Unreine in der Harmonie; aber es giebt Fälle, wo ihre Beobachtung sehr schweer wird. Die besten Tonsetzer beobachten sie im zweystimmigen, drey- und vierstimmigen Satz unverbrüchlich; weil da jeder geringe Fehler verdrüßlich wird. Je mehr Stimmen aber das Tonstük hat, je leichter werden die Fehler bedekt. Deßwegen erlauben sich auch gute Harmonisten, in vielstimmigen Sachen, Abweichungen von diesen Regeln, wenn sie dadurch größern Ungelegenheiten aus dem Wege gehen können.
Sonst sind die meisten Tonlehrer über diese Regeln der Fortschreitung sehr weitläuftig, und bestimmen oft gar alle Fälle, wie von jeder besondern Consonanz, auf jede andere fortzuschreiten sey2.
Eine besondere Betrachtung verdienet die harmonische Fortschreitung in Ansehung der fließenden Harmonie. Man muß aber die Fortschreitung hier von der Modulation unterscheiden. Diese ist die Fortschreitung aus einem Ton in andre; jene die Fortschreitung der Harmonie, in so ferne sie in einem Tone bleibt; und davon ist hier allein die Rede. [399] Also betrachten wir hier eine Folge von Accorden in einerley Tonart, in so fern ihre Fortschreitung eine fließende und wol zusammenhangende Harmonie ausmacht.
Diese Fortschreitung geschieht allemal so, daß der erste und letzte Accord der Dreyklang auf der Tonica3 ist. Der letzte Accord aber hat nicht allemal die Tonica, in welcher man angefangen hat, sondern auch eine andre, in deren Ton man übergeht. Z. E.
Hier ist eine Fortschreitung in C dur, die sich mit dem Dreyklang auf A endiget. Der erste Accord ist, wie allemal, der Dreyklang auf der Tonica. Von diesem Accord bis auf den letzten kann man auf unzählige Arten fortschreiten, wovon immer eine vor der andern, die Harmonie fließender und zusammenhängender macht. Alle mögliche Fortschreitungen zu bestimmen, würde ein thörichtes Unternehmen seyn; also kann man hier nichts anders thun, als die vornehmsten Regeln anzeigen, wodurch die Fehler vermieden werden. Wir merken also von diesen Fortschreitungen folgendes an.
1. Die Fortschreitung kann vom Anfang bis zum End aus blos consonirenden Accorden bestehen, und so gar bloß aus Dreyklängen, z. E. also:
Oder also:
Allein diese Art der Fortschreitung hat etwas sehr kraftloses; die Folge der Accorde ist zu willkührlich, und folglich ohne Zusammenhang, indem man von jedem auf jeden andern gehen kann; man kann wegen des vollkommenen Wolklanges auf jedem stehen bleiben4; insonderheit wäre die erste Art schlecht, weil immer um den andern Takt ein Schluß ist.
Dergleichen Fortschreitungen also müssen vermieden werden. Will man ja ganz consonirend fortschreiten, so wechselt man wenigstens mit dem Dreyklang und dem Sexten-Accord, so daß man die erste von den zwey angezeigten Fortschreitungen wenigstens so setzen würde:
wiewol dergleichen Fortschreitungen nur in Chorälen vorkommen.
2. Es kann in der Fortschreitung auf jeden Grundton, jeder andre in der Tonleiter der Tonart, darin man ist, folgen, ausser zweyen, bey denen man sich in Acht zu nehmen hat. Nämlich das Semitonium der Tonart, auf welcher man den verminderten Dreyklang nihmt, kann man nicht zum Grundton nehmen, als wenn der Dreyklang auf der Quarte, oder der Secunde, oder der Sexte des Haupttones vorhergegangen ist. Nach dem verminderten Dreyklang aber steiget die Harmonie gern in den harten Dreyklang auf der Terz des Grundtones; so daß dieser verminderte Dreyklang, so wie in folgenden Beyspielen, am besten behandelt wird.
Ferner kann man gleich im Anfang von dem Dreyklang auf der Tonica, nicht wol auf den Dreyklang seiner großen Terz gehen, weil dieses etwas hartes hat, und das Gefühl einer andern Tonart erwekt.
3. Man kann blos mit zwey Grund-Accorden, wenn man auch nur ihre erste Verwechslung dazu nihmt, eine Fortschreitung von etlichen Takten machen, wie hier:
wo nur der Accord auf dem Grundton, und auf seiner Dominante vorkömmt. Wollte man noch auf der Dominante den Septimen-Accord nehmen, so kann die Periode, wegen der vielen Verwechslungen des Septimen-Accords, sehr verlängert werden, wie dieses Beyspiel zeiget:
[400] Hieraus läßt sich leicht abnehmen, wie man mit wenigen Grund-Accorden nicht nur eine lange Folge von Harmonie hervorbringen könne, sondern auch wie diese Fortschreitungen auf unzählige Arten können verändert werden.
4. Um die Fortschreitung etwas reitzender zu machen, und eine große Mannigfaltigkeit in die Harmonie zu bringen, hat man zweyerley Mittel. Das erste besteht darin, daß man auf den Grundtönen, die natürlicher Weise eine kleine Terz haben, die große Terz nihmt, als:
In dem dritten und fünften Takt sind die großen Terzen der Grundtöne D und E genommen, als wenn man nach G und A ausweichen wollte. Dadurch wird die Fortschreitung etwas reitzender.
Noch besser aber verbindet man die Accorde mit einander durch die Dißonanzen; vornämlich durch die Vorhälte5, weil sie dadurch gleichsam in einander geschlungen werden, wie an seinem Orte deutlich gezeiget worden.
Dieses sind also die vornehmsten Betrachtungen, die man wegen der Fortschreitung der Harmonie in einerley Tonart zu machen hat.
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