[452] Gemählde. (Redende Künste)
Die Dichtkunst hat auch ihre Art zu zeichnen und ihr Colorit, wie die Mahlerey. Ueberhaupt ist fast jedes Gedicht ein Gemählde: doch wird diese Benennung nur den einzeln Stellen der Gedichte gegeben, wo sinnliche und besonders sichtbare Gegenstände, wie auf dem Vorgrund, näher ans Auge gebracht und bis auf ganz kleine Theile ausgezeichnet werden. Ein Gedicht gleicht einer gemahlten Landschaft, auf welcher der größte Theil der Gegenstände in einer Entfernung stehet, in der sie nur überhaupt gesehen werden, und, nur im Ganzen betrachtet, die allgemeine Vorstellung eines fruchtbaren, oder wilden, eines reichen oder eines magern, eines einsamen oder bewohnten Landes, erweken; einige besondere Gegenstände aber werden nahe an dem Vorgrund einzeln wol ausgezeichnet, daß man sie groß, wie in der Nähe sieht, und auch die einzeln Theile daran unterscheidet. Auf eben diese Weise verfährt auch der Dichter, der den größten Theil seiner Gegenstände etwas allgemein und nur überhaupt bezeichnet, andre aber so genau und so umständlich, daß sie uns näher als alles übrige vorkommen, so daß wir sie gerade und ganz nahe vor uns zu sehen vermeinen. Diesen besonders ausgezeichneten einzeln Theilen geben wir vorzüglich den Namen der Gemählde, ob er gleich auch dem ganzen Gedichte zukömmt.
In den Gedichten nehmen sich diese Gemählde so aus, wie vor einem Wald oder Busch, den man vor sich sieht, ein einzeler dem Auge nahe stehender Baum, an dem man jeden Ast und Zweyg, auch so gar einzele Blätter unterscheidet, da der Wald nur überhaupt als eine einzige Masse von Bäumen, in der man nichts, als die allgemeine Form und übrige Beschaffenheit sieht, ohne einen Baum darin einzeln zu unterscheiden, in die Augen fällt.
Indem man ein Gedicht, wie die Ilias, Aeneis, oder andre von dieser Art ließt, bildet man sich ein, man sehe die Sachen meistentheils in einiger Entfernung, als Sachen von denen man ein bloßer Zuschauer ist. Hier und da aber findet man einzele Scenen, die man so zu sehen glaubet, als wenn sie dichte vor uns lägen, oder als wenn man selbst unmittelbar dabey intreßirt sey. Dieses sind die eigentlichen poetischen Gemählde. So sehen wir im Anfang der Aeneas die Trojaner wie von weitem auf dem Meer fahren, um einen neuen Wohnplatz zu suchen; wir vernehmen, daß die Rachsucht Anschläge gegen diese Abentheurer mache, um sie in ihrem Vorhaben zu hindern u. s. f. Dieses alles liegt gleichsam fern von uns, bis der Dichter das lebhafte Gemählde des Sturms, der sie überfällt, zeichnet. Da glauben wir mit ihnen auf der See zu seyn, wir hören das Geschrey der Männer, das Getöse des Windes und der Wellen u. s. f. und wir gerathen in Furcht und Schreken, als wenn wir selbst in dieser Noth wären.
Dieses ist überhaupt die Beschaffenheit und Würkung einzeler poetischer Gemählde; man befindet sich in der Nähe der beschriebenen Scene, sieht und fühlt jedes Einzele darin, und empfindet eine so lebhafte Würkung davon, als wenn man sich die Sachen nicht blos in der Phantasie vorstellte, sondern sie durch die Gliedmaaßen der Sinnen empfände. Wie sich das Gedicht überhaupt von der gemeinen Rede dadurch unterscheidet, daß es alles sinnlich vorstellt, so unterscheiden sich solche Gemählde von den übrigen Theilen des Gedichtes, daß darin eine weit größere Lebhaftigkeit herrscht, die uns glauben macht, daß wir die Gegenstände beynahe würklich empfinden. Also sind diese Gemählde das Höchste der Dichtkunst, sie haben die Eigenschaften des Gedichts in einem höhern Grad, als die andern Theile desselben. Wenn Horaz uns einen im Staate mächtigen, dabey üppigen und ungerechten Mann beschreibet, und ihm vorwirft:1
Sepulchri
Immemor, struis domos;
Marisque Baiis obstrepentis urgues
Summovere littora,
Parum locuples continente ripa.
Quid quod usque proximos
Revellis agri terminos, et ultra
Limites clientium
Salis avarus?
so giebt er uns zwar eine sinnliche und ziemlich lebhafte Abbildung eines gewaltthätigen Schwelgers: aber durch das folgende kleine Gemählde,
[452] –– –– pellitur paternos
In sinu ferens Deos
Et Uxor et vir, sordidosque natos.
werden wir noch weit lebhafter gerührt. Wir sehen nun, wie ein von ihm unterdrükter Landmann, nakend und blos von Haus und Hof vertrieben wird, und werden dadurch äußerst auf den Tyrannen aufgebracht.
Die Natur dieser Gemählde besteht darin, daß der Gegenstand umständlicher, als es in der übrigen Materie des Gedichtes geschieht, ausgezeichnet und durch einen mahlerischen Ausdruk gleichsam mit lebendigen Farben bemahlt wird. Der Dichter verfährt hierin genau wie der Mahler, der in einer Landschaft den größten Theil der Gegenstände nur überhaupt so vorstellt, wie sie in der Entfernung erscheinen, und nur einige wenige Theile genau auszeichnet und mit allen Schattirungen und Mittelfarben mahlt. So macht es Homer, wenn er Schlachten beschreibet. Von weitem stellt er das Heer überhaupt vor, in welchem man wol die Wendungen und Bewegungen des ganzen Haufens, aber keinen einzeln Streiter gewahr wird; einige Hauptpersonen aber bringt er ganz nahe vors Gesicht; denn man hört sie reden, sieht sie nicht nur einzeln und vom Heer abgesöndert, sondern bemerkt genau ihre Rüstung, ihre Stellung und so gar einzele Gesichtszüge.
Es wird also überhaupt zu Verfertigung eines poetischen Gemähldes weiter nichts erfodert, als daß der Dichter seinen Gegenstand genau und bisweilen nach den kleinesten Theilen zu beschreiben, und dem Ausdruk die nöthigen poetischen Farben zu geben wisse2. Ueberall wo er dieses thut, hat er ein poetisches Gemählde gemacht. Aber das Feine der Kunst besteht darin, daß er bey dem Gemählde kurz und nachdrüklich sey, daß er ihm mit wenig meisterhaften Zügen das wahre Leben zu geben wisse. Es ist eine schweere Kunst sichtbare Gegenstände in wenig Worten zu beschreiben. Und doch ist die Kürze dabey unumgänglich nothwendig; denn es würde höchst langweilig und verdrießlich seyn, jedes Einzele, das der Phantasie vorschweben muß, um einen Gegenstand als ganz nahe zu sehen, besonders auszudrüken. Darum muß der Dichter hier Worte zu wählen wissen, die sehr viel mehr Begriffe erweken, als unmittelbar darin liegen; er muß Ausdrüke und Wendungen finden, die plötzlich alle Nebenbegriffe erweken, die sich einzeln nicht ausdrüken lassen. Darin besteht die eigentliche Kunst der poetischen Mahlerey. Das vorher angeführte kleine Gemählde des Horaz, wird durch das einzige mahlerische Wort Sordidos, sehr lebhaft, man glaubt die mit Lumpen bedekte, und aus höchster Armuth schmutzige Kinder zu sehen. Der kleine Umstand paternos in sinu ferens Deos, zeigt mit wenig Worten sehr viel an. Die Vertriebenen sind ehrliche, fromme Leute, ihnen ist gar nichts mehr übrig gelassen, das sie aus ihrer Wohnung wegtragen könnten, als die von ihren Aeltern ererbten elenden Bilder ihrer Hausgötter, und die tragen sie, nebst ihren Kindern auf den Armen weg u. s. f.
Die Gemählde sind überhaupt in der Dichtkunst von der größten Wichtigkeit, weil sie den Gegenständen die höchste Deutlichkeit und Kraft geben. Was man nur obenhin und gleichsam von weitem sieht, erwekt auch nur allgemeine und undeutliche Vorstellungen, davon keine große Würkung zu erwarten ist: jeder Eindruk, der im Gemüthe würksam seyn soll, muß von nahen Gegenständen verursachet werden. Es ist mit allen Arten der Vorstellungen so, wie mit Erzählungen von glüklichen oder unglüklichen Begebenheiten, die uns immer nach der Entfernung des Orts, da sie vorgefallen sind, weniger rühren. Allgemeine Drangsalen und Unglüksfälle, wie Krieg, Pest, Feuer- und Wassersnoth, die in weit entlegenen Ländern sich eräugnen, machen nur schwachen Eindruk: aber je näher die Scene der Noth uns liegt, je würksamer ist die Vorstellung, und wenn wir sie selbst sehen, so empfinden wir die höchste Würkung davon. So ist es mit allen Vorstellungen beschaffen.
Deswegen soll der Dichter, wo er das Gemüth recht angreifen will, die dazu nöthigen Gegenstände uns so nahe fürs Gesichte bringen, daß wir sie dichte vor uns zu sehen glauben: und darin besteht die Kunst der poetischen Mahlerey. Wer diese nicht versteht, der kann nie starken Eindruk machen. Es scheinet, daß das Wesentliche der Kunst in der genauen Beobachtung der allgemeinen Perspektiv, wenn man es so nennen därf, bestehe, die jedem einzeln Theil des Gedichts seine Entfernung, seine Größe, seine Ausführlichkeit in Zeichnung und Farbe bestimmt. Nur da, wo alle Regeln dieser Perspektiv genau beobachtet sind, entsteht die vollkommen gute Würkung des Ganzen. Diese Kunst muß [453] der Dichter von dem Landschaftmahler lernen. Alles, was blos überhaupt dienet seine Landschaft zu charakterisiren, wird in die Entfernung gesetzt: die mittlern Gründe werden mit Sachen angefüllt, die das besondere der Vorstellung näher bezeichnen, ihre Haupttheile erscheinen schon in einiger Deutlichkeit; die Hauptsachen aber, eine Gruppe von Figuren, die Handlung, die der Mahler in seiner Landschaft vorstellen will, wird auf den vodersten Grund ins Große gezeichnet. Die Personen sind uns so nahe, daß wir ihre Gesichtsbildung sehen, jede Gebehrde bemerken, und sie fast reden hören. Dieses beobachtet auch der Dichter. So hat es Thomson in seinen Schildereyen der Jahrszeiten gemacht. Jede Jahrszeit stellt uns eine sehr ausgebreitete Landschaft vor, deren allgemeiner Anblik auch die der Jahrszeit angemessenen allgemeinen Eindrüke macht. An verschiedenen Stellen des Hauptgrundes aber, der zu nächst vor uns liegt, hat er die reizenden Gemählde vertheilt, derenthalben eigentlich die ganze Landschaft gemahlt worden.
Es ist also eine Hauptsache, daß nur das Wesentliche der Vorstellungen in besonders ausgeführten Gemählden gezeichnet werde; weniger wesentliche Dinge müssen flüchtiger behandelt werden, damit sie, wie die Mahler sagen, zurüke treten. Es ist ein merklicher Fehler, und verschiedene gute deutsche Dichter haben ihn begangen, wenn ein Gedicht mit Gemählden überhäuft wird. Man sehe die große Menge derselben in Kleists Frühling und in Zachariäs Tageszeiten! So schön jedes Gemähld an sich ist, so sehr thut ihre Anhäufung dem ganzen Schaden. Man hat in Frankreich unsre Dichter mit Recht darüber gelobet, daß sie sehr gute Mahler sind, und mit eben dem Recht getadelt, daß sie von diesem wichtigen Talent einen Mißbrauch machen. Kein Mahler, der die Kunst in ihrem ganzen Umfange besitzt, wird auf seinen Hauptgrund viel einzele, genau ausgemahlte Gruppen anbringen. Im Gedicht über die Alpen scheint Haller in Ansehung der Menge einzeler Gemählde, das äusserste Maaß erreicht zu haben; nur etwas mehr würde schon Ueberflus seyn. Seine Gemählde aber stellen noch immer Hauptsachen vor, die wesentlich zu seinem Inhalt gehören.
Man hat den Gedichten, darin eine Mannigfaltigkeit von Gemählden vorkommt, den besondern Namen der mahlerischen Gedichte gegeben; und sie machen in der That eine eigene Gattung aus. Bey uns hat Haller, so wie in England Thomson, dieselbe empor gebracht. Sie muß aber, wie gesagt, mit großer Klugheit behandelt werden, damit nichts geringschätziges, als eine Hauptsache zu nahe vors Gesicht komme, und damit auch nicht die Menge der Gemählde eine Verwirrung verursache. Die Landschaften nehmen sich nie gut aus, deren Hauptgrund mit Gruppen überhäuft ist.
In dem epischen Gedicht, und in dem Lehrgedichte dienen einzele Gemählde gar sehr, um dem Ganzen Leben und Stärke zu geben. Es gehört aber eine sehr reife Beurtheilungskraft dazu, daß sie nicht zur Unzeit, sondern da angebracht werden, wo sie einem wichtigen Theil der Hauptvorstellung zur Verstärkung dienen. Hierin hat Homer sich als einen Mann von Verstand gezeiget; und es wäre der Mühe werth, daß jemand die einzeln Gemählde der Ilias, jedes nach dem Orte, den es im Ganzen und in den Haupttheilen einnihmt, und der Würkung, die es da thut, in nähere Beurtheilung nähme.
Alle über die poetischen Gemählde hier gemachten Anmerkungen können auch auf diejenigen Stellen eines Gedichts oder einer Rede angewendet werden, wo besondere Gedanken näher bestimmt und ausgezeichnet werden. Die schöne Rede, die nicht blos ein Werk des Verstandes, sondern auch des Geschmaks ist, verhält sich zu der blos philosophischen Rede, da es allein um die genaue und methodische Entwiklung der Gedanken zu thun ist, wie die perspektivische Zeichnung einer Landschaft, zu einem Grundriß, oder wie eine gemahlte Landschaft, zu einer Landcharte, die dieselbe Gegend vorstellt. In der Landcharte ist jeder Ort gleich deutlich und in seiner wahren Lage angedeutet; alles ist uns da gleich nahe; in der Landschaft aber fällt jedes so ins Gesicht, wie man es aus einem gewissen Stand und aus einem Gesichtspunkt sieht; das Nahe ist groß und ausführlich, das Entfernte klein und undeutlich. In einem blos auf den deutlichsten Unterricht abzielenden Vortrag, wie philosophische und mathematische Beweise sind, muß alles gleich deutlich, gleich bestimmt, und, so zu sagen, gleich nahe vor dem Auge liegen, wie die Oerter in einer Landcharte, oder in einem Grundriß; aber das Werk des Redners ist gleichsam perspektivisch entworfen. Die Hauptsache kömmt in die Nähe, wird umständlich [454] gezeichnet und bis auf die kleinsten Theile ausgeführt; die Nebensachen werden flüchtig behandelt, und viele zugleich nehmen wegen der Entfernung nur einen kleinen Raum ein. Also macht auch da, wo keine sichtbaren Gegenstände vorkommen, das Nahe oder Ausführliche eine Art des Gemähldes. Die Gegenstände müssen, so wie im Gemählde, gruppirt seyn, wie schon an einem andern Ort auch erinnert worden3. Es würde von großem Nutzen seyn, wenn sich ein verständiger Kunstrichter die Mühe geben wollte, die Theorie dieser rednerischen Perspektiv und der besondern Behandlung der, auf jeden Grund kommenden, Gegenstände besonders auszuarbeiten.
Sulzer-1771: Aufputzen der Gemählde
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