[953] Rede. (Beredsamkeit)
Im allgemeinen philosophischen Sinn wird jeder Ausdruk der Gedanken, in so fern er durch Worte geschieht, eine Rede genennt. Wir nehmen hier das Wort in der besondern Bedeutung, in so fern es ein Werk der Beredsamkeit bezeichnet, in welchem [953] mancherley auf einen wichtigen Zwek abziehlende Gedanken kunstmäßig verbunden, und mit Feyerlichkeit vorgetragen werden. Also handelt dieser Artikel von förmlich veranstalteten Reden, die durch ihren Inhalt, durch den Ort und die Zeit, da sie gehalten werden, wichtig genug sind mit warmen Interesse gehalten und angehört zu werden. Eine solche Rede ist das Meisterstük, das Hauptwerk der Beredsamkeit. Weder die Reden, die ohne einen wichtigen Zwek zum Grunde zu haben, blos zur Parade gehalten werden, und die Quintilian sehr wol, ostentationes declamatorias nennt, noch die kurzen laconischen Reden, wodurch auch bisweilen bey sehr wichtigen Gelegenheiten mehr ausgerichtet wird, als durch lange Reden, kommen hier in Betrachtung.
Nämlich, wir untersuchen hier nicht, in welchen Fällen förmliche und ausführliche Reden zu halten seyen; sondern wir sezen zum voraus, daß eine solche Rede zu halten sey. Es giebt freylich Fälle, wo ein ganzes Volk durch wenig Worte, die nichts, als ein plözlicher Einfall sind, auf einen Entschluß gebracht wird, der vielleicht durch die gründlichste, ausführliche Rede nicht wäre bewürkt worden. Plutarch (wo ich nicht irre) hat uns eine Anekdote aufbehalten, die dieses in ein helles Licht sezet.
Als König Philip in Macedonien anfieng den Griechen und andern benachbarten Staaten furchtbar zu werden, schikten die Byzantiner einen Gesandten nach Athen, der das Volk bereden sollte, sich mit ihnen gegen den Macedonier in ein Bündnis einzulassen. Kaum war der Gesandte, der ein kleiner, sehr unansehnlicher Mann war, vor dem Volk aufgetreten, um seine lange, vermuthlich mit grossen Nachdenken verfertigte Rede zu halten, als plözlich unter diesem höchst leichtsinnigen Volk ein großes Gelächter über die Figur des kleinen Gesandten entstund. Dies war eine üble Vorbedeutung über den Erfolg seiner Rede; darum änderte er mit großer Gegenwart des Geistes den Vorsaz eine förmliche Rede an eine so leichtsinnige Versammlung zu halten, und sagte nur folgendes:
»Ihr Männer von Athen! ihr sehet, was für eine elende Figur ich mache, und ich habe eine Frau, die nicht ansehnlicher ist, als ich. Aber wenn wir beyde uns zanken, so ist die große Stadt Byzanz noch zu klein für uns. Nun bedenket einmal, was für Händel und Verwüstung ein so unruhiger und herrschsüchtiger Mann, als Philip ist, unter den Griechen machen würde, wenn man ihn nicht einschränkte.«
Dieser spaßhafte Einfall that die gewünschte Würkung, die vielleicht durch die lange Rede, die der kluge Mann für dieses Geschäft ausgearbeitet hatte, nicht würde gethan haben.
So mag auch der Römer Pontius Pilatus ganz richtig geurtheilet haben, daß die rasenden Juden durch bloße Vorzeigung des unschuldig gegeiselten Christus und die dabey gesprochenen zwey Worte Ecce homo! von ihrem blutgierigen Vorhaben, ihn gekreuziget zu sehen, leichter abzubringen wären, als durch eine lange Rede über seine Unschuld.
Von dergleichen Reden, die plözliche Würkungen des Genies sind, ist hier nicht die Frage; weil man dem Redner nicht sagen kann, wenn und wie er durch solche glükliche Einfälle seinen Zwek erreichen könne. Wir wollen, ohne zu untersuchen, wo förmliche Reden nöthig sind, die Betrachtung hier blos darauf einschränken, wie sie müssen beschaffen seyn.
Man kann aber von der Vollkommenheit einer Sache nicht urtheilen, bevor man nicht ihren Zwek und ihre Art gefaßt hat. Also müssen wir zuvoderst den verschiedenen Zwek solcher Reden betrachten, und daraus ihre Arten bestimmen.
Man sagt insgemein der Zwek des Redners sey seine Zuhörer von etwas zu überzeugen: dennoch ist dieses nicht der einzige Zwek, den er sich vorsezen kann. Ofte sucht er blos zu rühren, eine gewisse Leidenschaft rege zu machen, oder die Gemüther blos zu besänftigen. Wir können uns die verschiedenen Gattungen der Reden, in Ansehung ihres Zweks am deutlichsten durch die verschiedene Beschaffenheit der einfachesten Redesäze vorstellen. Nicht jeder Saz der Rede enthält ein Urtheil, das wahr oder falsch seyn muß, es giebt auch Säze, die einen Wunsch, einen Befehl, eine bloße Ausrufung enthalten. Selbst die Säze, die man in der Vernunftlehre Urtheile nennt, sind von zwey sehr verschiedenen Gattungen. Die eigentlich urtheilenden Säze, wie diese: Gott ist weise; die Tugend macht glüklich; sind Säze von ganz anderer Art, als die blos erklärenden oder beschreibenden Säze, dergleichen die sogenannten Definitiones sind. Nun kann jede Art des einfachen Redesazes der Inhalt einer großen und [954] ausführlichen Rede werden. Dieses verdienet etwas umständlich betrachtet zu werden.
Der bejahende, oder verneinende Saz, als: die Tugend macht glüklich; der Lasterhafte ist nie glüklich, kann durch eine ausführliche Rede bestätiget, oder wiederlegt werden. Daraus entsteht die Rede, deren einzige Absicht ist zu überzeugen; weil ihr Wesen eigentlich darin besteht, daß etwas als wahr oder falsch vorgestellt werde.
Der blos erklärende Saz, als: Güte in ihren Würkungen durch Weißheit bestimmt, ist eigentlich das, was man Gerechtigkeit nennt, hat einen ganz andern Zwek. Man kann zwar eine beweisende Rede daraus machen, aber der unmittelbare Zwek solcher Säze, ist die Entwiklung und Festsezung eines einzigen Begriffes. Hier ist die Absicht Aufklärung, nicht Ueberzeugung. Zu dieser Art rechnen wir die Reden, darin blos die Beschaffenheit einer Sache ausführlich gezeiget, oder da gesagt wird, was sie sey; da der Redner seinen Zuhörern eine Sache kennen lehret. So sind einige Lobreden, auch solche da eine Sache blos in ihrer wahren Gestalt vorgestellt wird, ohne Urtheil ob sie gut oder böse, wahr oder falsch, nüzlich oder schädlich sey. Dahin gehören auch bloße Erzählungen, von welcher Art das erste und zweyte Buch der Reden des Cicero gegen den Verres sind, wo der Redner eigentlich nur erzählt, was der Beklagte gethan hat, und wie er bey verschiedenen Gelegenheiten gesinnt gewesen.
Der befehlende oder vermahnende Saz, kann ebenfalls der Inhalt einer großen, ausführlichen Rede seyn. Da ist der Zwek eigentlich Rührung, Erwekung der Furcht, des Muthes, der Hoffnung. So ist die Rede des Cicero, die eigentlich der Eingang seiner Anklage gegen den Verres ist, darin er die Richter zur Strengigkeit vermahnet. Auch die erste Rede gegen den Catilina ist meistens von dieser Art.
Auch der blos ausrufende Saz, dergleichen diese sind: o! unglükliches Vaterland! o! lieblicher Siz der Ruh und Unschuld, kann der Hauptinhalt einer ausführlichen Rede seyn. Alsdenn geht die Hauptabsicht des Redners auf die Entwiklung seines eigenen Gefühles, wodurch Empfindungen angenehmer, oder schmerzhafter, oder zärtlich trauriger Art bey dem Zuhörer erwekt werden. Dabey kann es Fälle geben, wo der Redner kein anderes Interesse hat, als seine Zuhörer angenehm zu unterhalten.
Dieses sind, wie mich dünkt, die verschiedenen Fälle, aus denen die Verschiedenheit des Zweks der Rede kann bestimmt werden, und woraus offenbar ist, daß der Redner nicht allemal auf Ueberzeugung arbeite. Es scheinet, daß alle Arten der Reden in Rüksicht auf ihren Inhalt auf drey Hauptgattungen können gebracht werden. Die erste Gattung begreift die, wo der Redner unmittelbar auf den Verstand der Zuhörer seine Absicht: richtet: man kann sie die lehrende Rede nennen. Die zweyte Gattung ist die von mittlerm Inhalt, wo vorzüglich die Einbildungskraft unterhalten wird, es sey, daß man den Zuhörer blos ergözen, oder ihn mit Bewunderung erfüllen wolle. Diese Gattung wollen wir die unterhaltende nennen. Die dritte arbeitet auf das Herz des Zuhörers, um darin, wichtigen und bestimmten Absichten zufolge, Leidenschaften rege zu machen, oder zu besänftigen. Dieser wollen wir den Namen der rührenden Rede geben.1
Jede Gattung könnte, wenn es hier der Ort wäre, ausführlich zu seyn, nur noch in Absicht auf den Zwek, in Unterarten eingetheilt werden. So kann man z.B. in der lehrenden Rede die, wodurch der Zuhörer zu einem bestimmten Urtheil über eine Sache gebracht wird, von der, wo er blos über ihre Beschaffenheit unterrichtet wird, unterschieden werden, jene kann man eine beweisende, diese eine erklärende Rede nennen. Aber wir überlassen dergleichen nähere Bestimmungen andern, welche die Materie ausführlich zu behandeln haben. Doch dieses muß hier angemerkt werden, daß es Reden giebt, die aus allen drey Gattungen zusammengesezt sind, da ein Theil lehrend, ein Theil unterhaltend, und einer rührend ist. Allein es ist nöthig, daß man sich jede Art besonders vorstelle. Denn natürlicher Weise hat jede ihren eigenen Charakter und ihre eigene Art der Vollkommenheit, die wir hier etwas näher zu betrachten haben.
Der Hauptcharakter der lehrenden Rede ist Klarheit und Gründlichkeit, denn darauf arbeitet der Verstand. Der Redner der darin glüklich seyn will, muß Scharfsinn haben, alles was zur Sache gehört in hellem Lichte zu sehen, und gründliche Urtheilskraft, das Wahre von dem Falschen genau zu unterscheiden. Die unterhaltende Rede muß hauptsächlich Schönheit und reizenden Reichthum zur Unterhaltung [955] der Einbildungskraft haben. Der Redner hat hier mehr nöthig ein Mahler, als ein Philosoph zu seyn; er braucht mehr Geschmak, als gründliche Kenntnisse. Die rührende Rede muß vornehmlich stark und eindringend, groß, feuerig und pathetisch seyn. Bey dem Redner wird vorzüglich eine sehr empfindsame, durch die Leidenschaften leicht zu entflammende Seele, ein stark fühlendes Herz, erfodert.
Dieses betrift eigentlich nur die materiellen Eigenschaften der Rede. Es ist aber leicht zu sehen, daß jede Gattung auch etwas besonders in der Form und in dem Ton haben müsse, worüber wir uns hier nicht einlassen, da das Wichtigste in besondern Artikeln ist ausgeführt worden.2
Ueberhaupt aber, müssen wir noch anmerken, daß jede förmliche Rede, die den Namen eines Werks der schönen Kunst verdienen soll, in ihrem Ton einen gewissen Grad der Würde, Größe und Wärme haben müsse, der der Feyerlichkeit der Veranlassung angemessen ist, und wodurch sie sich von einer philosophischen Abhandlung, von einer gemeinen historischen oder gesellschaftlichen Erzählung, von einem unterhaltenden angenehmen Geschwäz und von einer blos gelegentlich eintretenden paßionirten Rede unterscheidet. Denn so wie es einen Uebelstand macht, wenn der bloße Geschichtschreiber, der untersuchende Philosoph und der im gemeinen Umgang redende Mensch, ins eigentliche Rednerische geräth, so muß auch der Redner nicht in den Ton des gemeinen Vortrages fallen; da wir voraussezen, er spreche nur über wichtige Dinge, wol vorbereitet, und habe Zuhörer vor sich, die sich in einer intereßirenden Erwartung befinden. Hier wäre der gemeine gesellschaftliche, sogenante familiare Ton, unter der Würde der Gelegenheit zur Rede. Gedanken, Ausdruk, Schreibart, Anordnung und denn auch alles, was zum äußerlichen Vortrag gehöret, Stimm und Gebehrden, muß das Gepräg eines zu öffentlichem und wichtigen Gebrauch verfertigten Werks haben.
Daß zu einer solchen Rede, von welcher Gattung sie auch sey, sehr wichtige natürliche Fähigkeiten, und auch durch Nachdenken und Uebung erworbene Fertigkeiten erfodert werden, läßt sich leichte begreifen. Wie ein vollkommenes historisches Gemählde das höchste Werk der Mahlerey ist, zu dessen Verfertigung alle Talente des Mahlers und alle Theile der Kunst sich vereinigen müssen, so ist auch eine vollkommene Rede, das höchste Werk der Beredsamkeit. Genie, Beurtheilung, Geschmak, Größe des Herzens, müssen dabey zusammentreffen; und zu dem allen muß noch erstaunliche Fertigkeit in der Sprach, und alles, was zur schweeren Kunst des Vortrages gehört,3 hinzukommen.
Ich erinnere dieses vornehmlich deswegen, weil es mir vorkommt, daß man in Deutschland den Werth eines guten Redners nicht hoch genug schäze. Viele die von einer schönen Ode, auch wol gar nur von einem guten Sinngedichte mit Entzüken sprechen, scheinen sich für eine sehr gute Rede nur mittelmäßig zu intereßiren, und der laute Zuruf des Wolgefallens, womit man in Deutschland die Dichter beehrt, und belohnet, wird gar selten einem Redner zu Theil. In unsern critischen Schriften kann man hundertmal auf den Namen Horaz, oder Virgil kommen, ehe man einmal den Namen eines Demosthenes, oder Cicero antrift.
Wenn wir aber auf die Schwierigkeit der Sachen und die zu jeder Art nöthigen Talente sehen; so werden wir bald begreifen, daß weit mehr dazu gehört eine vollkommene Rede, als eine vollkommene Ode, oder Elegie zu machen. Hiezu ist oft eine angenehme Phantasie, feiner Geschmak und eine warme Empfindung für irgend einen Gegenstand, der gewöhnlicher Weise auch den kältesten in einiges Feuer sezt, hinlänglich. Aber wieviel wird nicht zu einer guten Rede erfodert? »Gar viel mehr, sagt Cicero, als man sich gemeiniglich vorstellt, und was nicht anders, als aus viel andern Künsten und Wissenschaften kann gesammelt werden. Denn wer sollte bey einer solchen Menge derer, die sich auf Beredsamkeit legen, und bey einer so beträchtlichen Anzahl guter Köpfe, die sich darunter finden, einen andern Grund von der Seltenheit guter Redner angeben können, als die ungemeine Größe und Schwierigkeit, der Sache selbst?«4[956] Von den drey Hauptarten der Rede ist die lehrende die schweereste, und erfodert das meiste Nachdenken. Wenn die Materie nur einigermaaßen schweer und verwikelt ist; so gehöret großer Verstand und Scharfsinnigkeit dazu, sie so zu behandeln, daß der Zuhörer am Ende der Rede die Sachen in dem Lichte und mit der Klarheit einsehe, wie der Redner. Wo es um wahre, dauerhafte Belehrung und Ueberzeugung zu thun ist, da helfen die sogenannten rednerischen Kunstgriffe sehr wenig, weil es da nicht auf Schein, sondern auf Wahrheit ankommt.
Quintilian sagt in sehr wenig Worten was zu einem guten Redner erfodert werde.5 Stärke des Geistes und Wärme des Herzens. Beydes sind Gaben der Natur und liegen außer der Kunst. Diese erleichtert aber den Ausdruk der Gedanken, und die Ergießung des Herzens, und ordnet sie zwekmäßig. Es ist hier der Ort nicht dieses zu zeigen. Wir begnügen uns nur eine einzige aber allgemeine und höchstwichtige Hauptmaxime anzuzeigen, die der Redner bey jeder Gattung vor Augen haben sollte. Er muß an nichts, als an seine Materie und an die Würkung, die sie auf den Zuhörer haben soll, denken, sich selbst aber und alle Nebenabsichten völlig aus dem Sinn schlagen. Wer bey seinem Reden oder Schreiben Nebenabsichten hat, als z.B. dem Zuhörer, oder Leser hohe Begriffe von sich zu geben, gelobt zu werden, oder durch seine Arbeiten sonst gewisse Vortheile zu erhalten, wird unmöglich verhindern können, daß nicht entweder seine Materie, oder die Form und der Ausdruk der Rede durch fremde zur Sache gar nicht gehörige Dinge verunstaltet werden. Bald wird er von dem Wesentlichen seiner Materie abweichen, um etwa schön zu thun, wo er glaubt eine gute Gelegenheit dazu gefunden zu haben; bald wird er etwas fremdes und unschikliches einmischen, weil ihn dünkt es werde den Zuhörer belustigen, und den Geschmak an seinen Arbeiten allgemeiner verbreiten; bald aber wird er völlig ausschweifen und Dinge vorbringen, die blos auf gewisse besondere, sein Interesse betreffende, seinem Inhalt ganz fremde Dinge gehen. Dergleichen wird man weder beym Demosthenes, dem größten Redner der Alten, noch bey Rousseau, dem stärksten der neuern Zeit antreffen. Die wahre Vollkommenheit jeder Sache, folglich auch der Rede besteht darin, daß sie ohne Ueberflus und ohne Mangel, gerade das sey, was sie seyn soll: daß sie aber diese Vollkommenheit unmöglich erhalten könne, wenn der Redner Nebenabsichten hat, denen zu gefallen er auch etwas thut, ist zu offenbar, als daß es einer weitern Ausführung bedürfe.
Niemand denke, weil unter uns, wenn man die Kanzel ausnihmt, sehr wenig Gelegenheit vorkommt, öffentlich aufzutreten, und über wichtige Dinge zu reden, daß deswegen die förmliche Rede unter die Werke einer in Abgang gekommenen Kunst gehöre. Wenn uns die Gelegenheiten benommen sind, vor Gericht, oder in Staatsversammlungen aufzutreten, und die Stärke der Beredsamkeit da gelten zu machen; so haben wir andere, gar nicht minder wichtige, große Dinge mit auszurichten. Man kann durch schriftlichen Vortrag, so ofte man will für ein ganzes Publicum treten: und höchst wichtige sowol allgemeine, als mehr ins besondere gehende Rechts- und Staatsmaterien, auf eine Art behandeln, die in den wesentlichsten Stüken wenig von der Art der griechischen und römischen Redner abgeht. Es giebt noch izt selbst in solchen Staaten, wo dem Volke wenig Freyheit gelassen ist, Gelegenheiten, da ein patriotischer Redner wichtige öffentliche Anstalten empfehlen, oder sehr schädliche Mißbräuche abrathen kann; wo er Nationalvorurtheile auszurotten, oder nüzliche Nationalgesinnungen einzupflanzen, versuchen kann.
Auch ist es gar nicht unerhört, daß philosophische Redner durch öffentliche Schriften, die in der That nach den Grundsäzen der Staatsreden abgefaßt waren, ob ihnen gleich die völlige Form derselben fehlte, beträchtlichen Einflus auf die wichtigsten Staatsgeschäfte gehabt haben. Noch haben Regenten, ganze Stände der bürgerlichen Gesellschaft, ganze Völker, Vorurtheile, die zu höchst verderblichen Unternehmungen führen; noch seufzet die Vernunft, und noch leidet das Herz des Patrioten bey gar vielen Anstalten, die blos auf Vorurtheile gegründet sind, oder aus Mangel genauerer Kenntniß der Sachen, allgemein geduldet werden. Sollte es unmöglich seyn, durch öffentliche schriftliche Reden diese Vorurtheile zu schwächen; die Nebel der Unwissenheit zu vertreiben, ein genaueres Nachdenken über gewisse wichtige Dinge unter ganzen Ständen einzuführen?
Wer dieses gehörig überlegt, wird finden, daß es nichts weniger als unnöthig ist, noch izt und unter [957] uns die Mittel zu entwikeln, wodurch Demosthenes und Cicero so große Dinge bewürkt haben. Ueberhaupt scheinet mir diese Erinnerung izt so viel wichtiger, da es am Tage liegt, daß unsre Kunstrichter sich der Dichtkunst mit so warmen Intresse, hingegen der Beredsamkeit so kaltsinnig annehmen, als wenn sie keine eheliche Schwester jener Kunst wäre.
Von den drey Hauptgattungen der Rede war die erste, nämlich die Lehrende das Hauptaugenmerk der alten Lehrer der Redner. Die andern Gattungen wurden nur in so fern in Betrachtung gezogen, als sie in manchen Fällen Theile der lehrenden Rede ausmachen. Ich will zu einem Beyspiehl, wie sorgfältig sie in Unterscheidung jeder Art des lehrenden Inhalts gewesen, das was Cicero hievon sagt, in einer Tabelle vorstellen.6
Die Rede hat zwey Hauptgattungen des Inhalts. Der Gegenstand über welchen man zu reden hat, ist
I. Allgemein: nämlich weder durch Zeit, noch Personen noch besondre Umstände bestimmt, und betrift eine abzuhandelnde allgemeine Materie. Dieser Stoff wird von Cicero Propositum auch Consultatio genennt.
Diese betrift:
1. Eine theoretische Frage, und zwar
A. ob etwas sey, oder nicht sey, ob es möglich oder würklich sey.
a. ob es überhaupt möglich sey
b. wie es möglich sey oder gemacht werde,
B. Was es sey
a. ob eine Sache von einer andern verschieden, oder mit ihr einerley sey.
b. Bestimmung der Sache, oder Beschreibung, Abbildung derselben.
C. In was für eine Classe der Dinge es gehöre
a. Ob es anständig oder unanständig
b. Ob es nüzlich
c. Ob es billich.
Von jedem kann noch untersucht werden
α. Ob es anständiger, nüzlicher, billicher, als ein anderes Ding
β. Ob es das alleranständigste, allernüzlichste etc. sey.
2. Eine praktische Frage, welche abziehlen kann
A. Etwas zu suchen oder zu vermeiden.
α. Wozu Lehren und Anweisungen, oder Warnungen gegeben werden.
β. Wozu das Gemüth bewegt oder beruhiget wird.
B. Zu zeigen, wie gewisse Vortheile zu erhalten sind.
II. Besonders: nämlich auf gewisse Personen, Zeit und Umstände eingeschränkt, oder ein zu behandelnder besonderer Fall. Diesen Stoff nennt Cicero Causam. Dieser kann seyn:
1. Eine Ausbildung; Exornatio.
A. Lobrede auf verdiente Männer.
B. Strafrede auf Böse.
2. Ein Gesuch; wo nämlich etwas zu erhalten, oder zu beweisen ist. Dieses wird Contentio genennt.
A. Was etwas zukünftiges betrift.
B. Was etwas vergangenes betrift.
Von diesen zwey Gattungen der besondern Fälle 1 und 2 entstehen die drey Gattungen der auf besondere Fälle gehenden Reden, die Lobreden, die Staatsreden, die gerichtliche Reden Genus demonstrativum, gen. deliberativum, gen. Iudiciale. Man sieht hieraus, wie sehr diejenigen sich irren, die alle mögliche Reden blos in diese drey lezten Gattungen einschränken, da es nur die Gattungen einzeler Fälle sind.7
Wir müssen auch noch etwas über die äußerliche Form der Rede sagen. Die Alten sezten, daß jede Rede gewisse Haupttheile haben müsse, die Quintilian also angiebt. 1. Den Eingang; Exordium. 2. Die Erzählung der Sache, worüber die Frag entstanden; Narratio. 3. Die Bestimmung der abzuhandelnden Frage; Propositio. 4. Die Abhandlung selbst, oder den Beweis; Probatio. 5. Den Beschluß, Conclusio, oder Peroratio. Er erinnert dabey, daß einige nach der Erzählung eine zwekmäßige Ausschweifung fodern, die bey ihm Egressio [958] heißt; und vor der Abhandlung, oder dem Beweis eine Eintheilung; Partitio; sagt aber, daß oft beyde unnöthig, die leztere so gar schädlich seyn könne; weil es nicht allemal gut ist, dem Zuhörer zum voraus zu sagen, wohin man ihn führen will. Selbst die Propositio scheinet ihm nicht allemal nöthig, in dem sie ofte besser der Erzählung angehängt werde.
Man siehet gleich, daß alles dieses eigentlich nur auf die gerichtlichen Reden abgepaßt ist. Betrachtet man die Sach überhaupt, so siehet man, daß der Redner in den meisten Fällen allerdings wol thut, wenn er seiner Rede einen schiklichen Eingang vorsezet. Wir haben davon besonders gesprochen.8 Auch ist es in den meisten Fällen schiklich, daß der Hauptinhalt der Rede kurz und genau bestimmt vorgetragen werde; bey gerichtlichen Reden aber, macht freylich die Erzählung des Vorganges der Sachen, der den Streit veranlasset hat, einen sehr wichtigen Haupttheil aus, der nicht selten zur Entscheidung der Sache das meiste beyträgt. Hiernächst kann man, wo es nöthig scheinet, auch die Eintheilung anbringen. Aber der Haupttheil, der den eigentlichen Körper der Rede ausmacht, ist allemal die Abhandlung; denn dessenthalber ist alles übrige da. Der Beschluß ist zwar auch nicht in allen Arten der Rede nothwendig, oft aber ist er ein sehr wichtiger Theil, wie an seinem Orte gezeiget worden.9 Man kann es dem Redner überlassen, ob er alle, oder nur die schlechthin nothwendigen Theile in seiner Rede beybehalten soll. Er kann es am besten in jedem Falle beurtheilen, ob er einen Eingang, eine Eintheilung, einen Beschluß nöthig habe, oder nicht. Die Rede ist darum nicht mangelhaft, wenn einer, oder mehrere dieser Theile daran fehlen.
1 | Tria sunt quæ præstare debet Orator, ut deceat, mooeat, delectet. Quintilian Inst. L. III. c. 5. §. 2. |
2 | S. ⇒ Lehrende Rede; ⇒ rührende Rede; ⇒ unterhaltende Rede. |
3 | S. ⇒ Vortrag (mündlicher.) |
4 | Sed nimirum majus est hoc quiddam, quam homines opinantur et pluribus ex artibus, studiisque collectum. Quis enim aliud in maxima discentium multitudine – præstantissimis hominum ingeniis – esse causæ putet, nisi rei quandam incredibilem magnitudinem ac difficultatem. Nämlich er hatte vorher angemerkt, daß weit mehr gute Dichter als gute Redner angetroffen werden, und giebt izt diesen Grund davon an. S. de Orat. L. I. |
5 | Pectus est quod disertos, faeit et vis mentis. Inst. L. X. c. 7. §. 15. |
6 | S. Cicer. To. pica. |
7 | Tous les discours imaginables que l'orateur peut faire se reduisent à trois genres qui sont: le demonstratif; le deliberatif; et le Judiciaire.. L'Abbé Colin Traitté de l'orateur Pref. p. 113. Man sieht nämlich aus der Tabelle, daß diese drey Gattungen nur die Causas betreffen. |
8 | S. ⇒ Eingang. |
9 | S. ⇒ Beschluß. |
Adelung-1793: Rede (2), die · Rede (1), die
Brockhaus-1911: Gebundene Rede · Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede
Meyers-1905: Gebundene Rede · Rede · Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede · Carrick a Rede · Direkte Rede
Pierer-1857: Rede [2] · Ungebundene Rede · Gebundene Rede · Rede [1]
Sulzer-1771: Unterhaltende Rede · Rührende Rede · Lehrende Rede
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