Septimenaccord. (Musik)
Unter diesem Namen begreifen wir nicht jeden Accord in dem die Septime vorkommt, sondern blos den, in welchem sie eine wesentliche Dissonanz ist.
Die Nothwendigkeit, bey der vollkommenen Cadenz dem Dreyklang der Dominante ein Intervall zuzufügen, das diesen Accord nach den Dreyklang des Haupttones lenket, und den Baß in die Tonica zu treten zwingt, hat die Septime eingeführet.1 Daraus ist der vierstimmige Septimenaccord entstanden, der die kleine Septime bey sich führet, weil diese aus der Tonleiter des folgenden Tones genommen, und daher am geschiktesten ist, ihn anzukündigen. Z.B.
Die Septime bietet sich bey dieser Gelegenheit so natürlich dar, und führt so nothwendig zur folgenden Harmonie, daß man hieraus Gelegenheit genommen, bey jedem cadenzmäßigen Gang des Basses, nämlich, wenn er Quarten- oder Quintenweise steigt oder fällt, dem vorlezten Dreyklang, die Cadenz mag so unvollkommen seyn, als sie wolle, die Septime zuzufügen, weil sie, wenn sie auch nicht aus der Tonleiter des folgenden Tones genommen, doch allezeit eine folgende Harmonie nothwendig macht, indem sie die Ruhe zerstöret, die allemal weniger oder mehr bey Anhörung eines Dreyklanges gefühlet wird. Diesenmach ist der Septimenaccord von viererley Art; denn die kleine Septime kann sowohl dem harten und weichen, als verminderten, die große aber nur dem harten Dreyklang allein, zugefüget werden.
Von diesen Septimenaccorden ist der erste der vollkommenste, weil er außer der Septime noch einen zweyten Leitton in sich begreift, nemlich die große Terz, als das Subsemitonium des Haupttones, welche mit der Septime eine falsche Quinte, oder in der Umkehrung einen Triton ausmacht, der auf die vollkommenste Weise auf der folgenden Harmonie aufgelöset wird2; die Septime geht nemlich unter sich in die Terz, und das Subsemitonium über sich in die Octave des Haupttones. Dieser Accord führt daher unmittelbar zum völligen Schlusse. Da die übrigen drey Arten des Septimenaccords diesen Vortheil eines zweyten Leittones nicht haben, so sind sie auch weniger vollkommen. Sie führen entweder zu dem Dreyklang oder Septimenaccord der Dominante, oder eines von der Tonica noch entlegneren Tones, wie in diesen Beyspiehlen zu sehen ist.
[1067] Sie können daher nur in der Mitte einer musikalischen Phrase vorkommen; der erste hingegen ist allezeit der vorlezte Accord einer vollkommenen Cadenz. In beyden Fällen ist die Septime gleich wesentlich, und giebt dem Accord, der ohne ihr ein bloßer Dreyklang seyn würde, die Eigenschaft, die Fortschreitung theils nothwendig zu machen, theils zu bestimmen. Da sie nun kein aus einem andern Accord entlehntes, sondern ein zu dem Grundton gehöriges dissonirendes Intervall ist, so ist der Septimenaccord ein wesentlich dissonirender Grundaccord, so wie der Dreyklang ein wesentlich consonirender Grundaccord ist. Daß alle übrige wesentlich consonirende und dissonirende Accorde aus den Verwechslungen dieser beyden Grundaccorde entstehen, und außer diesen kein Grundaccord mehr in der Harmonie existire, hat Hr. Kirnberger unlängst in einem Zusaz zu seiner Kunst des reinen Sazes, unter dem Titel: die wahren Grundsäze zum Gebrauch der Harmonie, unwiederleglich dargethan.
Der Septimenaccord leidet, da er vierstimmig ist, eine dreyfache Verwechslung. Wird die Terz zum Grundton genommen, so entsteht der Quintsextaccord, a; ist die Quinte im Baß, der Terzquartaccord b; und der Secundenaccord, wenn die Septime zum Grundton gemacht wird, c.
Alle diese Accorde sind gleich dissonirend, da sich in ihnen die Septime vom Grund- oder Fundamentalbaß befindet, die auf der folgenden Harmonie einen Grad unter sich treten muß. In dem Quintsextaccord wird die Septime zur dissonirenden Quinte, in dem Terzquartaccord zur dissonirenden Terz, und in dem Secundenaccord zum dissonirenden Grundton. Von dem Gebrauch dieser Accorde aber ist in ihren besondern Artikeln gesprochen worden.
Der Septimenaccord bringt unstreitig die größte Lebhaftigkeit in die Musik, weil er durch seine ruhezerstörende Kraft allezeit die Aufmerksamkeit auf eine folgende consonirende Harmonie rege macht. Fügt man der folgenden Harmonie wieder die Septime zu, so daß ein Septimenaccord auf den andern folgt, wie in diesen Beyspiehlen:
so kann man den Zuhörer dadurch in große Unruhe sezen, fürnemlich durch die Fortschreitung des zweyten Beyspiehls, wo die Täuschung um so viel größer ist, weil die bey jedem Accord sich befindende kleine Septime und große Terz die Nothwendigkeit eines folgenden Haupttones desto mehr fühlbar macht. Da diese Fortschreitung zugleich durch die sinkenden halben Töne in den Oberstimmen sehr traurig wird, so schikt sie sich fürnehmlich zum äußerst bittenden und sehnlichen Ausdruk. Wem ist das rührende Duett von Graun: Te ergo quæsumus aus seinem Te Deum laudamus unbekannt, wo diese Fortschreitung unterschiedliche mal angebracht ist? Z.B.
[1068] Die erste von den oben angeführten Folgen der Septimenaccorde ist nicht von solcher Kraft, sie verhindert aber, wie diese den Stillstand, und befördert die Modulation. Denn dadurch, daß der Zuhörer durch eine Reyhe Septimenaccorden in Unruhe und Ungewißheit gesezt worden, wird ihm der erste Dreyklang oder Dominantenaccord der ihm vorkömmt, willkommen, und er sezt sich ohne Zwang in der neuen Tonart fest. Dieses Vortheils hat man sich aber bis zum Mißbrauch bedient; daher gute Harmonisten dergleichen Art zu moduliren, fürnemlich wenn jeder Accord einen ganzen, oder wohl gar zwey Takte einnihmt, und deren mehr als höchstens vier auf einander folgen, nicht mehr gut heißen, und sie ihren Schülern unter dem Namen der Quintentranspositionen gänzlich verbieten.
Auf dem Septimenaccord folgt zwar am natürlichsten der Dreyklang der Unterquinte des Baßtones. Dennoch sind folgende Gänge in der Mitte eines Stüks nicht allein recht, sondern können auch von Ausdruk seyn:
Bey den zween erstern Fortschreitungen ist die Cadenz vermieden3, bey den übrigen aber übergangen worden. In Recitativen kommen dergleichen Fortschreitungen fürnemlich häufig vor. Noch frappanter wird der Uebergang des folgenden Dreyklanges in diesem Beyspiehl:
wo die Septime, statt einen Grad unter sich zu treten, einen halben Ton steigt. Diese Freyheit nehmen sich große Harmonisten bisweilen, um etwas heftiges auszudrüken. Eigentlich ist das angeführte Beyspiehl so zu verstehen:
Man sieht leicht, daß der zweyte Accord der vermiedenen Cadenz übergangen, und an dessen Stelle der darauf folgende angeschlagen worden.
Bey dem Septimenaccord sind nicht immer alle Intervalle, aus denen er besteht, nothwendig. Die Quinte ist am entbehrlichsten. Im strengen Styl darf die Terz nicht fehlen; in galanten Sachen wird auch diese weggelassen. Oft bleibt auch der Grundton weg, wie z.B.
Hier fehlt bey dem zweyten und vierten Accorde der Grundton des Septimenaccordes; denn daß sie keine Dreyklänge seyn, erhellet aus der natürlicheren Fortschreitung des Fundamentalbasses:
Obgleich nach dem, was in dem vorhergehenden Artikel von dem Unterschied der wesentlichen und zufälligen [1069] Septime gesagt worden, kein Zweifel mehr übrig bleibt, wie der Septimenaccord von dem Accord der zufälligen Septime zu unterscheiden sey; so ist doch in dem einzigen Fall, wenn die Auflösung der zufälligen 'Septime erst auf der folgenden Harmonie geschieht, und der Accord dadurch das Ansehen erhält, als ob er wesentlich wäre, noch folgendes hauptsächlich zu merken.
Der zufällige Septimenaccord kann nur entstehen, wenn bey dem Quintsextaccord die Septime ein Vorhalt der Sexte wird. Geschieht dies bey dem Sextaccord, so wird der Accord uneigentlich der Septimenaccord genennet, weil er keine Quinte neben sich leidet; er kann daher niemals mit dem Septimenaccord verwechselt werden. Bey diesem tritt der Baßton bey der Auflösung der Septime am natürlichsten in den Grundton des Dreyklanges seiner Unterquinte; nach dem zufälligen Septimenaccord aber in den nächsten halben Ton über sich. Z.B.
In dem ersten Beyspiehl ist der Septimenaccord der wesentliche Grundaccord; in dem zweyten aber der vorgehaltene Quintsextaccord, der aus der ersten Verwechslung des Septimenaccordes entsteht, und der daher nicht anders als ein Quintsextaccord behandelt werden kann.4 Diese Bewandniß hat es allezeit mit dem verminderten Septimenaccord5; er kann daher niemals ein wesentlicher Grundaccord seyn, wie Rameau irrig lehret, sondern hat allezeit die Unterterz des Baßtones mit dem Septimenaccord zum Grunde.
Ob nun gleich der zufällige Septimenaccord in der Behandlung und in Rüksicht seines Fundamentalbasses nicht von dem Quintsextaccord unterschieden ist, so ist er doch von unweit größerm Nachdruk, fürnemlich wenn die Septime in der Oberstimme angebracht ist: denn alsdenn ist der Accord aus lauter übereinanderstehenden Terzen zusammengesezt, und dadurch faßlicher, als wenn statt der Septime die zu dem Grundton gehörige Sexte angeschlagen würde, weil sie mit der neben ihr liegengenden Quinte eine Secunde ausmacht. Durch die gewaltsame Uebersteigung der Octave des Fundamentaltones aber, von welchem die zufällige Septime die None ist, erhält dieser Accord seine große Kraft, wenn er frey angeschlagen wird. Er ist in steigenden Affekten der schiklichste Accord, die äußerste Höhe derselben auszudrüken; er schikt sich in Singstüken zu der lezten nachdrüklichsten Wiederholung starker Worte; wenn Graun nach einer Generalpause mit ihm Forte wieder anfängt, so sezt er unsre ganze Seele in Erschütterung: kein Accord nimmt so sehr den höchsten und stärksten Accent aller Leidenschaften an, als der zufällige Septimenaccord; daher gute Meister sich seiner nur sparsam und bey den nachdrüklichsten Stellen bedienen. Kömmt er im Piano vor, so erhebt er sich auf eine unterscheidende Art von seinem vorhergehenden und folgendem Accord, und macht in dem Piano eine angenehme Schattirung. Der verminderte Septimenaccord wird noch durch die Molltonart charakterisirt, und ist daher zum äußerst traurigen Ausdruk geschikt. Dieser Accord hat noch das ihm eigene Schikliche zu enharmonischen Ausweichungen.6
Noch ein anderer uneigentlich benennter Septimenaccord ist der durchgehende; er kömmt vor, wenn der Baß und eine oder mehrere Stimmen sich bey einem liegenden Ton in Consonanzen durchgehend fortbewegen, der von den durchgehenden Baßnoten zur Septime wird. Z.B.
Die Septime wird hier nicht als Dissonanz behandelt, weil der ganze Accord gegen dem Fundamentalbaß blos durchgehend ist. Daher ist dieser und alle durchgehende Accorde in der Harmonie das, was die durchgehenden Töne in der Melodie sind.7
Rameau giebt jedem Accord, der eine Septime in sich enthält, den Septimenaccord zum Grunde. Dadurch entstehen Ungereimtheiten, die auch ein Schüler dafür erkennen muß. Man sehe z.B. folgendes Exempel mit dem Rameauschen Grundbaß.8
[1070] Die Quarte bey der zweyten Note macht gegen die Quinte eine Secunde, oder umgekehrte Septime; aber Niemand, als Rameau und die, die ihm blindlings folgen, wird sich einfallen lassen, hier den Septimenaccord von A zum Grunde zu legen, da von diesem Grundton sich in der Harmonie eine verdoppelte Quarte befindet, wovon weder die eine noch die andere aufgelöset wird. Mit der None des folgendes Taktes hat es dieselbe Bewandniß; die Quinte die wesentlich zu dem Grundaccord gehöret, kann zu dem Accord gar nicht angeschlagen werden. Wer fühlt nicht, daß sowol die Quarte als None hier blos zufällige Vorhalte vor der Terz und Octave seyen, worin sie alsbald aufgelöset werden, und daß die Grundharmonien des Exempels folgende simple Dreyklänge seyen?
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