[1282] Zeichnung. (Zeichnende Künste)
Daß die Zeichnung bey den bildenden Künsten die Hauptsach sey, ist zu offenbar, als daß es eines Beweises bedürfe; nur in Ansehung der Mahlerey, sind deswegen Zweifel entstanden, weil es einigen geschienen hat, daß das Colorit eben so wichtig, als die Zeichnung sey. Es ist nicht selten, daß Gemählde darin die Zeichnung unter dem mittelmäßigen ist, wegen der Fürtrefflichkeit des Colorits unter die ersten Werke der zeichnenden Künste gesezt worden. Wenn man die Sache genau beurtheilen will, muß man nur bedenken, ob durch Zeichnung, oder durch Colorit das meiste ausgerichtet werde. Daß in der Form der Körper überhaupt mehr Kraft liege, als in ihrer Farb, ist wol keinem Zweifel unterworfen. Die Form hängt aber größtentheils von der Zeichnung ab. Aber in den Gemählden scheinet eben diese Kraft der Form, ihren Nachdruk vom Colorit zu bekommen. Die vollkommene Täuschung, der zufolge man im Gemählde, nicht einen blos abgebildeten, sondern würklich vorhandenen Gegenstand zu sehen glaubt, erhöhet und vollendet die Kraft der Formen. Wer wird sagen können, daß ein blos gezeichnetes Portrait bey der höchsten Vollkommenheit der Zeichnung, so viel Eindruk auf ihn mache, als wenn zu dieser Zeichnung noch die völlige Wahrheit der Farben, und die daher entspringende Haltung und das Leben noch hinzukommt? Man kann das Colorit mit der Schönheit des Ausdruks, die Zeichnung aber mit dem Sinn, oder dem nakenden Gedanken vergleichen. Der richtigste und wichtigste Gedanken, thut erst alsdenn seine volle Würkung, wenn er in einem vollkommenen Ausdruk erscheint. Es giebt Gemählde, die bey einer sehr mangelhaften Zeichnung, blos wegen der ungemeinen Wahrheit, die das Colorit ihnen giebt, nicht die Bewundrung der Kunst, (denn davon ist hier nicht die Rede) sondern den lebhaftesten Eindruk des Gegenstandes selbst bewürken. Doch davon haben wir bereits anderswo gesprochen.1 Wir wollen hier nur so viel anmerken, daß dem Mahler Zeichnung und Colorit, eines so wichtig, wie das andere seyn müsse, und daß er bey merklichem Mangel sowol des einen, als des andern, kein vollkommener Mahler seyn könne. Wie der Redner mit den fürtreflichsten Gedanken, die er elend vorträgt, nichts ausrichtet; und wie der beredteste Mensch, durch den höchsten Glanz des Ausdruks das gedankenlose der Rede nicht würde verbergen können; so verhält es sich auch mit dem Mahler, dem es an Colorit oder an Zeichnung fehlte.
[1282] Zur Vollkommenheit der Zeichnung gehören Richtigkeit und Geschmak. Da die Zeichnung nichts anders ist, als eine Bezeichnung sichtbarer Gegenstände, so ist sie um so viel vollkommener, je genauer und richtiger diese Bezeichnung geschieht. Die höchste Richtigkeit bestünde darin, daß schlechterdings jede zur Form des Gegenstandes gehörige Kleinigkeit, gerade so, wie sie ins Auge fällt, gezeichnet würde. Diese vollkommene Richtigkeit hängt theils vom scharfen und richtigen Sehen, theils von der Fertigkeit der Hand ab. Von jenem haben wir besonders gesprochen.2 Wir wollen hier nur noch anführen, daß selbst zum richtigen Sehen schon einige Kenntnis der Optik und Perspektiv erfodert werde. Man glaubt insgemein, daß das Sehen blos von der Schärfe des Auges herkomme, folglich ein angebohrnes Talent sey. Aber Philosophen, die die Sache näher untersucht haben, versichern uns, daß man erst nach langer Uebung so weit kommt, als nöthig ist, um sich der wahren Gestalt und Entfernung der Dinge mit einiger Klarheit bewußt zu seyn, oder genau zu wissen, was man sieht. Das Gesicht ist mancherley und wunderbaren Täuschungen unterworfen, die zwar durch Uebung allmählig berichtiget, aber nur durch Theorie völlig unschädlich werden. Wir wollen nur eines einzigen besondern Falles erwähnen. Wenn wir einen Menschen mit ausgestrekten Armen von der Seite, aber in der Nähe sehen, so daß eine Hand merklich entfernter vom Aug ist, als die andere, so müssen sie nothwendig in sehr ungleicher Größe ins Aug fallen. Aber weil wir einmal wissen, daß natürlicher weis eine Hand so groß ist, wie die andere, so finden wir sie auch ungeachtet ihrer verschiedenen Entfernung gleich groß. Der Mahler, der über perspektivische Verjüngungen nie gedacht hat, würde gewiß auf seiner Leinwand der einen eben die Größe geben, wie der andern, und dadurch seine Zeichnung für geübte und unterrichtete Augen, unrichtig machen. Und so verhält es sich in mehr Dingen, in Ansehung des richtigen Sehens. Verschiedene Kleinigkeiten entgehen der Aufmerksamkeit des Sehenden ganz, wenn ihn nicht gewisse andere Kenntnisse darauf führen. Sehr geringe und zarte Erhöhungen und Vertiefungen im Umriß des Nakenden, wird der, der eine gute Kenntnis der Anatomie hat und weiß, daß irgend ein Knochen, oder ein Muskel hier oder da eine kleine Erhöhung verursachet, auch besonders bemerken; da sie einem andern entgehen werden.
Hieraus wird man begreiffen, daß auch das beste Aug zum richtigen Sehen nicht hinlänglich ist, sondern daß viel Uebung, eine lange Bekanntschaft mit den Gegenständen, und Kenntnis der Perspektiv und Anatomie, dazu nothwendig sind.
Die Fertigkeit der Hand scheinet blos eine Sache der langen Uebung zu seyn. Es ist erstaunlich zu sehen, zu was für Fertigkeiten die Gliedmaaßen, besonders Arm und Hand, durch anhaltendes Ueben gelangen können. Diesen Theil der Kunst kann jeder lernen, dessen Fleiß anhaltend und hartnäkig genug ist.
Und hieraus kann ein angehender Zeichner sehen, was er zu thun hat, um zur Richtigkeit der Zeichnung zu gelangen. Sie ist das Fundament der Kunst; weil ohne sie der Geschmak, und das höchste Gefühl des Schönen, nicht vermögend sind, bey der Ausübung ihren Zwek zu erreichen. Darum dringet Mengs darauf, daß Anfänger mit Hintansezung alles übrigen, sich der Richtigkeit befleißen. Seine Lehre verdienet hier angeführt zu werden. »Ich ermahne, sagt dieser große Künstler, die Anfänger der Mahlerey, daß sie sich nicht zu viel auf solche Subtilitäten, wie hierin geschrieben, (nämlich über Geschmak und Schönheit) verlegen; denn im Anfange taugen solche nicht. Die erste Bemühung eines Anfängers soll seyn, das Auge zur Richtigkeit zu gewöhnen, so daß er dadurch fähig werde, alles nachmachen zu können. Zugleich soll er sich der Handübung befleißigen, damit die Hand gehorsam sey, zu thun, was er will, und nach diesem erst die Regeln und das Wissen der Kunst erlernen.«3
Aber durch bloße Richtigkeit der Zeichnung kann der Künstler nicht groß werden. Die Vollkommenheit der Kunst besteht nicht darin, daß man jeden Gegenstand in der höchsten Richtigkeit zeichne, sondern darin, daß man den nach dem besondern Zwek wol gewählten Gegenstand so zeichne, daß er in seiner Art die höchste Würkung thue. Er muß also leicht, mit Geist, und nachdrüklich gezeichnet seyn, damit er das Aug zur näheren Betrachtung reize. Winkelmann, dem auch Lessing beystimmt, sagt, der erste Grundsaz der zeichnenden Künste sey, alles wiedrige zu meiden, und überall Schönheit zu suchen. Dieser Grundsaz aber ist [1283] meines Erachtens den zeichnenden Künsten nicht eigen, und muß von dem Zeichner nicht weiter ausgedähnt werden, als von jedem andern Künstler. Der Dichter muß alles schön, wolklingend und nachdrüklich, oder auf sonst eine Art mit ästhetischer Kraft vortragen; der Tonsezer muß immer Harmonie und Rhythmus beobachten, und der Mahler, auch da, wo weder Farbe noch Ton die angenehmsten sind, ihnen Harmonie geben. Wollte man jenen Grundsaz so verstehen, daß im Zeichnen alles Unangenehme der Formen zu vermeiden sey, so würd er zu weit führen. Raphael, der größte Zeichner unter den Neuern, hat gar ofte wiedrige Formen, weil sie zu seinem Inhalt nöthig waren. Aber auch solche Gegenstände müssen in ihrer Art nach guten Verhältnissen, mit fließenden leichten Umrissen, mit Geist und Leben, gezeichnet seyn. Wie in Gemählden die Zeichnung die Hauptsach ist, so ist in der Zeichnung der Geist und das Leben das vornehmste. Richtigkeit befriediget; Anmuthigkeit und Schönheit gefallen; aber das Leben, der mit den wenigsten wesentlichen Strichen fühlbare Charakter jedes Gegenstandes, rührt auf das Lebhafteste.
Ueber diesen höchst wichtigen Punkt der Zeichnung giebt Mengs in dem angeführten Werke den richtigsten und bestimmtesten Unterricht. Jeder Zeichner sollte dieses fürtreflichen Mannes Anmerkungen hierüber, als die ächten Glaubensartikel seiner Kunst täglich vor Augen haben. Da wir zu dem, was er über den Geschmak und die Schönheit der Zeichnung sagt, nichts hinzuzusezen finden, so begnügen wir uns den Künstler blos dahin zu verweisen.
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