[122] Keuschheit. Reiner als der Strahl der Morgensonne, der sich im Thaukrystalle bricht, steht vor der Seele des Menschen seines Schöpfers ernstes, mildes, unveränderliches, ewiges Bild. Aehnlich ihm wurden wir aus Staube; er lieh uns sein Conterfei, auf daß wir ein Vorbild haben. Doch es zu erreichen, das makellose, gelänge uns wohl nimmermehr, hätte der Ewige uns nicht ausgerüstet gegen den Andrang der Sinnenmacht. Er gab uns Vernunft, deren Kraft die der Lust und des Wahnes überwiegt. Himmlischer Abkunft, die reinste Natur, verlangt sie unverderbte Natürlichkeit; sie ist es, die unsere Blicke gegen den Himmel, des Geistes Heimath, richtet, wenn uns die Kette der Leidenschaft niederdrückt zur Erde. Staub geschaffen, wie wir sind, kleben wir wohl am Staube, lassen unser Himmelsgut der Sinnlichkeit hingegeben, bis Ueberdruß und Ekel die Seele umnachten, wir hinsterben Schritt für Schritt. Und wie nöthig, wie unerläßlich ist nicht Reinheit der Seele im Leben! Welche Tugend ist unser, wenn wir nicht rein, nicht des Leibes Beherrscher sind? Wenn wir nicht Gedanken zu binden vermögen, und den Blick zu verhüllen, wenn der Reiz des Bösen sein Sirenenlied beginnt? Wenn wir die Phantasie nicht züchtigen, sobald sie Bilder entwirft, die mit der klaren Anforderung der Vernunft, der ehrwürdigen Natur, entzweien? Wenn wir dem Wüstlinge, dem schlauen Verführer, Gehör schenken, ohne uns des Gewissens Spiegel vorzuhalten? Das Gewissen aber spricht: Schüttle der Sinne Ketten ab, ehe dich das Grab übereilt; mache dich rein, denn, wenn dein Engel ruft, mußt du klar dastehen, wenn du eingehen willst in das Reich ewiger Klarheit.[122]
B l.