[370] Lindner, Karoline, geb. 1806, eine der größten und gefeiertesten deutschen Schauspielerinnen. Es ist Unrecht über den Verfall unserer dramatischen Kunst zu klagen, so lange noch Talente wie Kar. Lindner, Sophie Schröder, die Crelinger, Julie Rettich-Gley, Doris Devrient, Charl. Höffert, die Peche, die Fournier, Karol. Bauer, Charl. v. Hagn etc. leben. Vielleicht ist kein[370] Zeitabschnitt eines Lebensalters so reich an kräftigen, frischen, phantasiebegabten Bühnentalenten gewesen, wie der jetzige! Man klage immerhin unsere Dichter an, daß sie nichts Neues, Gediegenes mehr zu schaffen im Stande sind; an den darstellenden Talenten unserer Bühnen liegt die Schuld des Verfalles der Kunst keineswegs. Müssen sie doch ihr Talent bei dem Mangel an interessanten vaterl. Novitäten mit Entäußerung ihrer Individualität und ihres deutschen Charakters an den Machwerken franz. und engl. Theaterstück-Manufakturisten vergeuden! Karoline Lindner ist von den vielen, zum Theater Berufenen, eine Auserkorne. Keine blendende Schönheit, nicht der Reiz der Toilette, nicht Koketterie, keine Abenteuerlichkeit des Lebenswandels gaben ihr Berühmtheit: es war das Talent und sein allmächtiger Zauber, seine unbesiegbare Gewalt und dessen Wahrheit. Nicht wie die Haitzinger-Neumann(s. d.) feierte sie Triumphe durch Huldigung des Zeitgeschmackes in einer entnervten Periode, sondern lediglich durch die Poesie ihres Inneren, durch die Tiefe und Wahrheit ihrer Empfindung, durch die treue Wiedergabe des Empfundenen, durch den Adel ihrer Gefühle und Leidenschaften hat sie sich in der Geschichte deutscher Schauspielkunst ein bleibendes Denkmal gestiftet. K. Lindner ist eine von den Wenigen, welche den Lorbeerkranz auch verdient haben! Ihr Platz im Kunstpantheon ist neben Sophie Schröder und Sophie Müller. Die Zeitgenossen, selten bestimmt in ihrem Urtheil, haben hier gerichtet und das Urtheil ist abgeschlossen. Die Natur hat ihr den Stempel des Berufes aufgedrückt, die veredelnde Kunst den Weihekuß gegeben. Sie ist eine Priesterin in den Hallen, die so oft entweiht, durch sie stets neue Weihe erhalten. Wer die Dichter versteht und ihre idealen Gebilde plötzlich durch Karoline belebt und der Anschauung näher gebracht sieht, wird uns beipflichten. Ihr Genre ist das Naive, Sentimentale, das Letztere namentlich, wo es in das Tragische hinüber reicht, der zarte Heroismus, das Seelenvolle. Die Sprache der Seele ist ihre Sprache, jede Miene, jeder[371] Ton Wahrheit, jedes Wort trifft den Hörer und erfaßt ihn, er fühlt es, daß es nicht anders gesprochen werden kann: über das Warum weiß er sich keine Rechenschaft zu geben, und das ist eben der Triumph des Talentes, das keine Bemühung, kein Studium zu ersetzen im Stande ist. Ihren Darstellungen im Lustspiel wohnt eben so viel Grazie, Feinheit, Eleganz und Natürlichkeit inne. In welcher Gattung sie mehr zu bewundern sei, darüber ist man nicht einig; wohl aber, daß sie stets Bewunderung verdiene. Der Raum gestattet hier nicht, auf die unterscheidenden Merkmale ihres Talentes in den verschiedenen Kunstleistungen einzugehen; wir haben hier nur ein Gesammturtheil angedeutet mit flüchtigen Strichen, man nehme es als ein Wort der Anerkennung, wie es das entschiedene Talent verdient. K. Lindner ist Mitglied des frankf. Nationaltheaters, und daß sie dessen glänzendste Zierde ist, bedarf, nach dem Gesagten, wohl nicht der Erwähnung.
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