Mechanistische Weltansicht

[648] Mechanistische Weltansicht ist: 1) metaphysisch der Materialismus (s. d.), 2) empirisch-methodologisch-heuristisch die (bewußt einseitige, abstract, aber consequent festzuhaltende und nur metaphysisch-teleologisch zu ergänzende) Betrachtung der Natur als System von Bewegungen und von meßbaren Größen (quantitative Naturbetrachtung). Nach der mechanistischen Weltansicht muß jedes Naturgeschehen mechanisch-causal, aus Bewegungen der Materie (s. d.) interpretiert werden. In der Biologie bedeutet die mechanistische Ansicht, im Gegensatze zum Vitalismus (s. d.), die rein mechanische (physikalisch-chemische) Erklärung der organischen Processe.

Die mechanistische Weltansicht vertritt (metaphysisch) die antike Atomistik (s. d.): Dêmokritos de to hou heneka apheis legein panta anagei eis anankên hois chrêtai hê physis (Aristot., De gener. anim. 789 b 2), LUCREZ (De nat. rer. I, 1020; IV, 833), der Materialismus (s. d.). – Durch KOPERNIKUS, KEPLER, GALILEI erhält die mechanistische Naturbetrachtung ihre wissenschaftliche Begründung. KEPLER erklärt: »Mundus participat quantitate, et mens hominis (res supramunda in mundo) nihil rectius intelligit, quam ipsas quantitates, quibus percipiendis factus videri potest« (Epist. de harmon., Op. V, 28). Doch nimmt Kepler noch Gestirngeister als Agentien an. Zur Verbreitung dieser Naturbetrachtung tragen F. BACON (der die Teleologie in der Naturwissenschaft selbst ausschließt) und noch mehr HOBBES bei, der sie auch auf das Psychische (s. d.) überträgt. Ferner DESCARTES, dem die Ausdehnung als einziges Attribut[648] der Materie (s. d.) gilt, der in der Physik (s. d.) keine anderen als die mathematischen Principien anerkennt (Princ. philos. II, 64) und der nur die quantitativen Qualitäten (s. d.) als real betrachtet, wie es auch LOCKE tut. Im Gebiete des Körperlichen hält auch SPINOZA die mechanistische Naturbetrachtung fest; das Teleologische (s. d.) wird von ihm durchgehends ausgeschlossen, da aus Gott (s. d.) alles mit logisch-mathematischer Notwendigkeit folgt (Eth. I, prop. XXXVI, app.). Der empirisch-mechanistischen Naturauffassung gibt NEWTON neue Stützen.

Zwischen Mechanismus und Teleologie (s. d.) vermittelt LEIBNIZ. Die Cartesianische Naturphilosophie ist ihm nur »l'antichambre de la vérité«. Alles geht (als Erscheinung und relativ) mechanisch, zugleich aber (im Innensein) »metaphysisch«, d.h. hier geistig-teleologisch zu, ohne Widerspruch. »Tout ce fait mécaniquement et métaphysiquement dans le même temps.« »La source de la mécanique est dans la métaphysique« (Gerh. III, 607; IV, 282, 471).

KANT versteht unter »mechanischer Naturphilosophie« »die Erklärungsart der specifischen Verschiedenheit der Materien durch die Beschaffenheit und Zusammensetzung ihrer kleinsten Teile, als Maschinen« (Met. Anf. d. Naturwiss. S. 100). Diese Auffassung vertritt Kant empirisch-methodologisch, für die Organismenwelt das teleologische (s. d.) Princip reservierend, die Dinge an sich aber ganz als unerkennbar bestimmend. Schließlich muß alles Mechanische auch teleologisch aufzufassen sein. Der Begriff der organisierten, teleologisch durchwirkten Materie führt notwendig »auf die Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke, welcher Idee nun aller Mechanismus der Natur nach Principien der Vernunft (wenigstens um daran die Naturerscheinung zu versuchen) untergeordnet werden muß« (Krit. d. Urt. II, § 67). »Hierauf gründet sich nun die Befugnis und... auch der Beruf: alle Producte und Ereignisse der Natur, selbst die zweckmäßigsten, so weit mechanisch zu erklären, als es immer in unserem Vermögen... steht, dabei aber niemals aus den Augen zu verlieren, da, wir die, welche wir allein unter dem Begriffe vorn Zwecke der Vernunft zur Untersuchung selbst auch nur anstellen können, der wesentlichen Beschaffenheit gemäß, jener mechanischen Ursachen ungeachtet, doch zuletzt der Causalität nach Zwecken unterordnen müssen« (l.c. § 78). Der »Newton des Grashalms« ist noch nicht gefunden. – SCHELLING bemerkt: »Fassen wir endlich die Natur in ein Ganzes zusammen, so stehen einander gegenüber Mechanismus – d.h. eine abwärts laufende Reihe von Ursachen und Wirkungen, und Zweckmäßigkeit, d.h. Unabhängigkeit von Mechanismus, Gleichzeitigkeit von Ursachen und Wirkungen. Indem wir auch diese beiden Extreme noch vereinigen, entsteht in uns die Idee von einer Zweckmäßigkeit des Ganzen« (Naturphilos. S. 61). Nach SCHOPENHAUER ist der Mechanismus der Naturprocesse eine Objectivation des »Willen zum Leben« (s. d.). Nach E. v. HARTMANN sind Mechanismus und Teleologie die zwei Seiten des einen Princips der logischen Notwendigkeit, das mit dem alogischen Willen verbunden ist (Philo(s. d.) Unbew. II10, 450). M. CARRIERE erklärt: »Mechanistische und teleologische Auffassung der Natur widersprechen einander so wenig wie Zweck und Mittel; sie schließen einander nicht aus, vielmehr fordern sie einander; die eine zeigt uns die Art und Weise des Geschehens und der Dinge, die andere erschließt ihren Sinn und ihre Bedeutung für sich und im ganzen« (Sittl. Weltordn. S. 63). LOTZE betont die universelle Ausdehnung und zugleich die Unterordnung des Mechanismus unter die Teleologie (Mikrok. I2, S. XV). Ähnlich J. WARD (Naturalism and Agnostic. 1899). Nach[649] WUNDT ist der Mechanismus der Natur »nur ein Teil des allgemeinen Zusammenhangs geistiger Causalität« (Eth.2, S. 472). Nach O. LIEBMANN sind Mechanismus und Teleologie zu vereinigen (Analy(s. d.) Wirkl.2, S. 389 ff.). So auch nach PLANCK (Test. ein. Deutschen. S. 323), RAVAISSON u. a. FOUILLÉE erblickt im Mechanismus nur die Außenseite und das Resultat geistiger Kräfte (»idées-forces«, s. Spiritualismus). Nach NIETZSCHE zeigt uns die mechanistische Weltanschauung nur »Folgen« und diese noch dazu im Bilde, in der Sprache unserer Empfindungen. Alle Voraussetzungen des Mechanismus, Stoff, Stoß, Druck, Schwere, Atom, sind nicht Tatsachen an sich, sondern Interpretationen. »Die Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung in die Sinnensprache des Menschen.« »Die mechanistische Welt ist so imaginiert, wie das Auge und das Getast sich allein eine Welt vorstellen...« Die ursächliche Kraft wird dadurch nicht berührt (WW. XV, 296 f.). Die wahre Kraft ist der »Wille stur Macht« (s. d.). Der Mechanismus ist nur eine »Zeichensprache für die interne Tatsachen-Welt kämpfender und überwindender Willens-Quanta« (WW. XV, 297 ff.). Die Ergänzung der mechanistischen durch die metaphysische, dynamische Weltanschauung fordert BACKHAUS (We(s. d.) Hum. S. 8 ff.). Vgl. Dilthey, Einl. I, 470.

Nach HELMHOLTZ sind alle Veränderungen in der Welt als Bewegungen aufzufassen, die Bewegung ist die »Urveränderung, welche allen andern Veränderungen in der Welt zugrunde liegt«. Alle elementaren Kräfte sind Bewegungskräfte. Endziel der Naturwissenschaft ist es, alles in Mechanik aufzulösen (Vortr. u. Red. I4, 379). Ähnlich F. A. LANGE (Gesch. d. Material.). Auch DUBOIS-REYMOND: »Es gibt für uns kein anderes Erkennen als das mechanische, ein wie kümmerliches Surrogat für wahres Erkennen es auch sei, und demgemäß nur eine wahrhaft wissenschaftliche Denkform, die physikalisch-mathematische« (l.c. I, 232). »Die theoretische Naturwissenschaft ruht nicht eher, als bis sie die Erscheinungswelt auf Bewegungen letzter Elemente zurückführt, welche nach denselben Gesetzen vor sich gehen, wie die der gröberen, sinnfälligen Materie« (Red. I, 434). So auch WUNDT (Syst. d. Philos.2, S. 484), EBBINGHAUS (Gr. d. Psychol. S. 34), E. HAECKEL, ferner die Physiker CLAUDIUS, BOLTZMANN, THOMSON, MAXWELL u. a.

Dagegen erklärt E. MACH: »Daß alle physikalischen Vorgänge mechanisch erklären seien, halten wir für ein Vorurteil« (Mechan. S. 486; Populärwiss. Vorles.2, S. 181), ähnlich P. VOLKMANN (Erk. Grundz. d. Naturwiss. S. 153 f.), ferner OSTWALD, der an Stelle der mechanistischen die energetische (s. d.) Naturanschauung setzt (Vorles. üb. Naturphilos. S. 165 f., 202 f., 229 f.). Gegen den Dogmatismus der mechanistischen Weltanschauung sind E. v. HARTMANN (Mod. Psychol. S. 354), STALLO, HELM u. a. H. CORNELIUS meint: »In keiner Weise findet sich... das Dogma bestätigt, daß alle Naturerscheinungen mechanisch erklärt werden müßten; nur insofern die mechanischen Analogien ein vereinfachendes Bild für die Darstellung der Tatsachen anderer Gebiete ergeben, ist ihre Anwendung zur Erklärung dieser Tatsachen berechtigt« (Einleit. in d. Philos. S. 327 f).

Nach WUNDT hingegen gibt es zwingende logische Motive, die der mechanistischen Naturbetrachtung (empirisch) ihre Gültigkeit bewahren. Erstens gibt es Naturvorgänge, von denen die unmittelbare Erfahrung nichts enthält und die wir dennoch auf Grund exacter Analyse der Erscheinungen als objectiv gegeben annehmen müssen, und die sich dann als Bewegungsvorgänge erweisen[650] (Schall, Licht etc.). Zweitens müssen wir die Empfindungsqualitäten als subjectiv aus den objectiven Vorgängen eliminieren, sonst kämen wir auf ein Meer uferloser Hypothesen (Syst. d. Philos.2, S. 463 ff.; Philos. Stud. XIII, 80). Die Annahme, daß alle Energieformen Abwandlungen der mechanischen Energie seien, erklärt die Tatsachen am besten, sie trägt dem »Postulat der Anschaulichkeit«, welches den Objecten adäquate symbolische Bilder fordert, Rechnung (Syst. d. Philos.2, S. 484 ff., 488). – Nach RIEHL ist der Mechanismus »nur das Symbol für die allgemeine Gesetzlichkeit des Geschehens«. Durch ihn allein wird nicht bestimmt, was geschieht (Zur Einf. in d. Philos. S. 165). Vgl. Dynamismus, Teleologie, Parallelismus (psychophysischer), Notwendigkeit.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 648-651.
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